Was bitteschön ist ein Halloween Countdown? Nichts anderes als ein Adventskalender für alle Spukfans! Bis zum 31. Oktober gibt es hier jeden Tag ein neues Stückchen einer Geschichte zu lesen.

Der Fluch der Familie Fairbone

1. Oktober

Dies sind die jüngsten Aufzeichnungen der ehrenwerten Familie Fairbone sowie die – unter Umständen – letzten. Um diese eventuellen Umstände zu begreifen, muss man einen nicht allzu flüchtigen Blick auf den Stammbaum der Familie werfen. Das Pergament, auf dem ebendieser verzeichnet ist, hängt in der ehemals prunkvollen Empfangshalle des Familienanwesens ausgestellt und umfasst nunmehr dreizehn Generationen mit achtundneunzig Familienangehörigen. Darunter ein lebender. Oder anders ausgedrückt: Ein Angehöriger, dessen Tod nicht wenigstens einmal festgestellt worden ist.

Der junge Herr Wulfstan Emanuel Vivelin Fairbone ist der offiziell letzte seines Geschlechts. Was nicht allzu verwunderlich erscheint, bedenkt man, dass die Familie Fairbone sieben Generationen zuvor an einem Oktober dem 31. verflucht worden sein soll. Zu baldigsten Toden und nie kommender Ruhe heißt es in der Familienchronik, zu der auch diese Zeilen hier hinzugefügt werden sollen. Daher auch der jahrzehntelange Brauch im kargen Dorfe unweit des Anwesens, den Grabreden frisch Verstorbener hinzuzufügen: „Gott sei Dank, er war kein Fairbone, denn die bleiben nicht lange tot.“

Dieser Satz steht bei jeder Beerdigung anstelle des Gebets, da die Dorfbewohner es den Fairbones gleichgetan und das Beten vor langer Zeit aufgeben haben.

Von den Dorfbewohnern soll hier aber nicht allzu viel erzählt werden. Schließlich geht es um den jungen Herrn Fairbone. Wulfstan wurde nämlich unlängst sechsundzwanzig Jahre alt, was ihn aus unerfindlichen Gründen dazu bewegte, den Fluch seiner Familie bekämpfen zu wollen. Wie er dies zu tun beabsichtigt?

Nun, in just diesem Moment erreicht meine alten Ohren das markante Knarzen der sich öffnenden schweren Flügeltür des Anwesens. Das liebreizende Fräulein Vikita Rosenherz wird soeben eingetroffen sein. Wir werden sehen, wie viel sie gegen die Geister der Familie zu tun vermag.

2. Oktober

An dieser Stelle wäre es wichtig, über das Hause Rosenherz das Folgende zu wissen: Sein bis zum heutigen Tage angehäuftes Vermögen stammt einzig und allein aus der Hexenjagd. Ja, ein Urahn Vikitas war zur damaligen Zeit überaus berühmt in seinem Feld. Er bekämpfte schwarzmagische Hexen, blutrünstige Ungeheuer und Kreaturen, grausame Wiedergänger … Sagen wir, kurzum, alle Gestalten, die jedweden Albträumen entsprungen sein könnten. Die heldenhaften Abenteuer des Urahns Rosenherz könnte etliche Folianten füllen, hätte er nur je Zeit und Muße gehabt, sie niederzuschreiben.

Nun möchte man annehmen, das Fräulein Vikita wäre ebenso bewandt und hätte die lange Reise zu unserem einstmals zauberhaften Anwesen getan, um Bannflüche zu zerreißen, Monster hinzuschlachten und die Gespinste der Vergangenheit zu bezwingen. Zu meinem Leidwesen, muss ich hier jedoch berichten, dass das Wissen der Familie Rosenherz um alles Fabelhafte und Albtraumgleiche in den Zeiten versunken ist.

Vikita ist keine Kämpferin. Nicht im herkömmlichen Sinne. Sie sitzt soeben bei einem herzhaften Frühstück und entwirft eine ganz andere Art von Schlachtplan. Einen für eine Hochzeit.

Sie finden das zu dramatisch von mir formuliert? Sicher nicht. Vikita hat erst eine Nacht in dem Anwesen der Fairbones verbracht. Schon in wenigen Tagen wird sie feststellen, Wulfstan zu ehelichen wird ein Krieg mit seiner ganzen verstorbenen Sippschaft. Das Fräulein wird den Spuren ihres Ahnen folgen müssen, ob sie sich darüber im Klaren ist oder nicht.

3. Oktober

Ein Gefecht – einerlei welcher Art – kann man nur aufs Beste planen, ist man mit dem Austragungsort bekannt. Darüber bewusst ist sich auch unser Fräulein. Und da es von Beginn an vereinbart gewesen war, die Hochzeit in der familieneigenen Kapelle der Fairbones abzuhalten, wandert Vikita an diesem Vormittag zur Türe hinaus, um sie in Augenschein zu nehmen. Die Kapelle liegt nun zu allem Unglück hinter dem Herrenhaus, jenseits der vormals prunkvollen Blumenbeete. Ich sage zu allem Unglück, denn zwischen Kapelle und Haus liegt der Friedhof, der ebenfalls zum Anwesen gehört. Reihe um Reihe dunkler Grabsteine zieht sich dort entlang. Bemoost durch die Zeit, freudlos geneigt mit den Winden und auf jedem einzelnen der Name Fairbone. Es ist ein Anblick, der früheren Besuchern stets schauriges Unbehagen eingebracht hat.

Zu meiner Überraschung liegt in Vikitas Augen ein wunderfitziges Funkeln, während sie durch die krummen Reihen streift. Ihr fällt schnell auf, dass kaum ein Fairbone das hohe Alter erreicht hat. Wie könnte es ihr nicht auffallen? Auf den Grabmälern der Fairbones gibt es nur Namen und Daten zu beschauen. Keine Titel oder Beinamen, keine Ornamente oder Engelsbilder, keine Bibelzitate, nicht einmal ein In Liebe.

Ein Ruf schallt über das Grundstück. Der junge Herr Wulfstan eilt heran. Er würde nie rennen, doch seine Schritte sind lang und eindringlich. Er ruft nach Vikita, so entschieden, dass sie fast geglaubt hätte, etwas Falsches getan zu haben. Man erlebt ihn sonst nie laut. Deshalb senkt er die Stimme, sobald er Vikita erreicht. Er senkt sie vielleicht sogar etwas zu sehr. Doch man kann von seinen Lippen lesen: „Hier ist es nicht sicher. Nicht hier.“

Dann nimmt er seine Zukünftige bei der Hand und des Fräuleins Wangen werden leuchtend rot. Vikita wirft keinen Blick über die Schulter, als Wulfstan sie mit sich zurück ins Haus zieht. Der merkwürdige Garten aus steinernen Blumen schon vergessen.

Es ist ihr Glück.

4. Oktober

Vikita hat bereits drei Nächte im Anwesen verbracht und unser guter Wulfstan steht grübelnd vor dem Kaminfeuer seines Arbeitszimmers und betrachtet seine rechte Hand. Jene, mit der er am Vortag so unverschämt Vikitas zarte Finger ergriffen hatte. Seine Sorgen sind dem jungen Herrn ins Gesicht gemeißelt. Der flackernde Feuerschein lässt sie sogar noch beträchtlicher wirken, lässt sie ihre Schatten elendig weit werfen. Man kann ganz deutlich in ihnen lesen: Er hatte gehofft, Vikita wäre vor dem Fluch sicher, würde er sich bis zur Hochzeit von ihr fernhalten.

Wulfstan ballt die Faust, fast schon entschlossen. Dann verlässt er den Raum, dessen Luft seine düsteren Gedanken frisst. Die Tür fällt etwas zu laut ins Schloss.

Der junge Herr gleitet die Treppe hinab und schreitet die Zimmer des Hauses ab, unweigerlich auf der Suche nach dem Fräulein Vikita. Nach dem gestrigen Tag wird er sie nicht mehr aus den Augen lassen wollen. Dazu hätte ich von Anfang an geraten. Aber ich bin auch lediglich der vernachlässigbare Chronist.

Wulfstan findet die ihm Versprochene schließlich im Ballsaal, der bereits vor Wulfstans Geburt ebenso verlassen ausgesehen hat wie der Friedhof draußen. Der Kronleuchter ist mit dicken Spinnweben bestückt, die Vorhänge vor den deckenhohen Fenstern sind von Motten durchbrochen und der Fußboden ächzt unter jedem Schritt. Man möchte nicht daran denken wie anstrengend es für ihn wäre, würde jemand es wagen, auf ihm zu tanzen.

Gerade als Wulfstan Vikita ansprechen möchte, räuspert sich eine Stimme hinter ihm. Es ist eine Stimme, tiefer als die Gräber hinterm Haus und rauer als die Dachbodentüre. Eine, deren Existenz Wulfstan beinahe verdrängt hatte. Denn natürlich war Vikita Rosenherz nicht allein angereist. Ihr war ein winziger Kreis an Personal gefolgt, darunter auch Zabel, dem ebenjene Stimme gehört. Er posiert als ergebener Diener, doch Wulfstan weiß es besser. Zabel ist Vikitas blutrünstiger Wachhund, abgestellt von ihrem Vater persönlich.

In ganz ungebührlicher Manier bleckt Wulfstan die Zähne. Vielleicht wird sein Familienfluch ja doch nicht das größte Problem werden.

5. Oktober

Seit Wulfstan am Vortag beschlossen hatte, sich Vikita – auf gänzlich unskandalöse Weise – zu nähern, wurde immer deutlicher, welch überaus guter Wachhund Zabel war. Gerade drei Sätze konnte er mit seiner Verlobten wechseln, bevor sich Zabels durchdringender Blick in seinen Nacken bohrte. Und lasst euch gesagt sein: Zabels Blick kann die Luft erwürgen, bringt Eisblöcke zum Zittern, lässt die Dunkelheit erschauern.

Bis zum Abendessen, das in diesem Moment stattfindet, kann Wulfstan die Anwesenheit des grobschlächtigen Kerls mit den kalten Augen kaum noch ertragen. Selbst bei Tisch drängt sich Zabel wortlos zwischen ihn und Vikita. Als das Fräulein nicht hinschaut, erwidert Wulfstan Zabels Blick mit all der Bösartigkeit die er aufbringen kann, doch leider sieht der eine neben dem anderen wie ein Welpe neben einem Höllenhund aus.

Der junge Herr knirscht mit den Zähnen – sicher nicht wegen des zähen Bratens – und ich kenne ihn lange genug, um seine Gedanken durch die hellen Iriden hindurch zu lesen: Er fragt sich, ob man den Familienfluch nicht auf das Anwesen und seine Gäste ausweiten könnte.

6. Oktober

Seit der junge Herr Wulfstan das Fräulein Vikita drei Tage zuvor vom Friedhof fortgedrängt hat, hatte sie nicht davon abgelassen, ihren Wunsch nach der Besichtigung der Kapelle zu äußern. Nach dem heutigen Frühstück gab Wulfstan dann endlich nach – mit der Bedingung, dass sie den Leichenacker nur in seiner Begleitung überquere.

Jetzt kann man Vikita fröhlich durch die Eingangshalle tänzeln sehen. Jeder kann sie sehen. Nicht nur ich, auch Zabel.

Mit tiefen Furchen in der Stirn bremst er sie aus, fragt sie, wohin sie so plötzlich verschwinden möchte.

„Zur Kapelle“, flötet Vikita, sichtlich glücklich, endlich die Hochzeitsvorbereitungen vorantreiben zu können.

„Etwa allein?“, hakt Zabel nach. Die Einkerbungen seiner Stirn werden abyssisch.

„Nein“, sagt Wulfstan, bevor Vikita eine Chance zu antworten hat. Er schlendert aus einem Nebenraum und findet seinen Platz an ihrer Seite.

„Ich komme mit“, beschließt Zabel schleunigst.

„Als Anstandsdame, ja?“, fragt Wulfstan verbissen und ergreift in einem Akt der Provokation Vikitas Hand. Das Fräulein zieht ihn sogleich zur Türe, ein breites Lächeln im Gesicht. Es bricht nur für einen winzigen, schwindenden Augenblick: Als sie über ihre Schulter hinweg Zabel erblickt.

7. Oktober

Zabel ist schon immer jemand gewesen, der die ihm verliehenen Aufgaben sehr ernst nimmt – ernster noch als das eigene Leben, möchte man sagen. Das sieht man daran, wie er Vikita wenn möglich nicht aus den Augen lässt. Zumindest nicht, wenn Wulfstan in der Nähe ist. Bis zur Hochzeit steht Vikita unter Zabels Schutz und so gibt er sich alle Mühe, stets einen bedrohlichen Schatten auf jeden zu werfen, der ihr seiner Meinung nach zu nahe kommt. Und ist sie ihm in ihrem Vorbereitungswahn mit glitzernden Augen und flinken Füßen entwischt – wie gerade eben – dann sieht man ihn aufgeschreckt durch die Korridore tigern. Die Falten auf seiner Stirn sind weicher, sorgenvoll statt zornig. Der finstere Ausdruck seiner Augen ist abgelöst durch ein nervöses Trommeln seiner Finger auf der Hosenbeinnaht. Er tigert so gekonnt und gedankenversunken, dass es fraglich ist, ob er Vikita bemerken würde, liefe sie an ihm vorüber.

Aber etwas muss doch zu ihm hindurchdringen. Er bleibt stehen und reckt den Kopf. Nein, er spitzt die Ohren. Langsam schleicht er zum eleganten Treppengeländer und schmult, im Schatten verborgen, ins Untergeschoss.

Es ist Wulfstans Stimme, die Zabels Aufmerksamkeit erregt hat. Die Worte des jungen Fairbones tragen sich durch die Stockwerke. Entgegen seiner Art spricht er äußerst laut. Dabei ist seine Gesprächspartnerin des Fräuleins Dienerin, die gerade drei Jahre älter als jene und sicher nicht schwerhörig ist.

„Wissen Sie“, sagt Wulfstan soeben, „auch wenn Vikitas Hand mir längst vom Herrn Rosenherz versprochen wurde, jemand so Liebliches verdient einen richtigen Antrag. Finden Sie nicht?“

Zabel hebt die Lefzen und beugt sich vor, um Vikitas Dienerin erpicht nicken zu sehen.

„Das denke ich mir auch“, meint Wulfstan weiter. „Deshalb möchte ich sie zu einem Picknick im Mondenschein einladen. Würden Sie ihr das ausrichten?“

Die Bedienstete errötet, als wäre sie selbst geladen worden, und verspricht rasch, Vikita zu unterrichten. Dann eilt sie die Treppe hinauf. Direkt in Zabels Arme.

„Wohin so eilig?“, fragt er mit einer zuckersüßen Stimme, die kaum seine eigene sein kann. Die Antwort nimmt er kaum wahr. Schließlich weiß er Bescheid.

„Ich werde das Fräulein informieren“, säuselt Zabel weiter und lässt keine Widerworte zu. Er dreht sich auf der Ferse um und geht davon. Plötzlich scheint ihm egal zu sein, wo Vikita ist.

Oh, hätte er doch nur noch einmal die Treppe hinuntergeschaut! Er hätte Wulfstans verschmitztes Lächeln sehen können.

8. Oktober

Als Vikita an diesem Morgen aufwacht, ist das Haus bereits in Aufruhr. Schleunigst wirft sie sich ihren seidenen Morgenmantel über und folgt den erregten und ganz sicher zu vielen Stimmen bis ins Foyer. Vor ihr liegen nur noch wenige Treppenstufen, da hält sie stolpernd an. Ihre zarte Hand verkrampft um das Geländer. Es sind tatsächlich zu viele Stimme. Sie gehören Männern in einfacher Kleidung, die Vikita allesamt nicht kennt und die um eine Trage stehen. Darauf die reglose Gestalt Zabels. Vikita erkennt ihn gerade noch, bevor ein Laken über sein Antlitz gezogen wird. Aber sie hat ihn lang genug gesehen: Seine farblosen Augen, die ins Leere starren, der verzerrte Mund, die aufgerissene Kehle …

Vikita schwankt, während sie die letzten Stufen hinunterläuft. Schnell findet sie Wulfstan und Beth, ihre Dienerin, unter den Fremden.

„Habt Ihr denn nichts gesehen?“, fragt Beth flehentlich und schluchzt so eindrucksvoll, dass Vikita sogleich den Arm um ihre Schultern legt. „Sie und das Fräulein Rosenherz?“ Ihr Blick wechselt zwischen Wulfstan und ihrer Herrin, deren Brauen sich immer mehr in Verwirrung zusammenziehen.

„Nein“, antwortet Wulfstan und richtet auch seine Augen auf das Fräulein. „Zwar war ich letzte Nacht im Garten, doch leider bin ich dort alleingelassen worden. Was immer Zabel zugestoßen ist, muss geschehen sein, als ich schon wieder im Bett lag. Sehr traurig, muss ich übrigens gestehen.“

Beths Augen weiten sich und man hört ihrer Stimme an, dass sie Vikita am liebsten ausgeschimpft hätte: „Wieso wart Ihr nicht im Garten?“

Vikita versteht die Geschehnisse um sich herum immer weniger. Als sie ihre Gedanken äußert, fragt Beth nur: „Hat Zabel Euch gestern gar nichts gesagt?“ und Vikita schüttelt stumm den Kopf. Ihr Blick huscht zu der verdeckten Leiche, die gerade vier Schritt neben ihr liegt.

Die Männer schultern Zabels Trage und bewegen sich schwergängig zur Tür.

„Wo bringen sie ihn hin?“, möchte Vikita wissen.

„In euren Heimatort“, antwortet Wulfstan. „Hier kann er nicht beerdigt werden und auch nicht unten im Dorf.“

„Weshalb das nicht?“

„Sie bestatten dort niemanden, der auf dem Grund und Boden der Fairbones stirbt.“

„Welche Gründe könnten sie dafür haben?“

„Ein alter Aberglaube.“

Vikita möchte weiterfragen, doch Wulfstan dreht sich um, verschränkt die Arme hinter dem Rücken und geht Richtung Küche. „Ich mache uns allen einen Tee“, beschließt er. „Das wird helfen.“

Sogleich eilt Beth hinter ihm her. „Oh, aber das kann ich doch -“

Wulfstan winkt ab. „Auch Sie müssen sich erst vom Schock erholen.“

Vikita folgt ihnen mit zerrissenem Herzen und wirbelnden Gedanken.

9. Oktober

Den Rest des Tages und die ganze letzte Nacht hindurch sind Vikitas schäumende Gedanken nicht zur Ruhe gekommen. Sie lebt schon über eine Woche auf dem Anwesen und das krude Bild, dass sich in ihrem aufgeschreckten Hirn zusammensetzt, ergibt für sie wenig Sinn.

Sie hatte mehr über den Friedhof wissen wollen, aber Wulfstan schwieg sich aus. Erst fand sie es wunderlich, gar faszinierend, so ein eigener Friedhof, wo andere die Terrasse hatten. Nun kommt er ihr fehl und bizarr vor. Sie denkt angestrengt darüber nach und murmelt Wulfstans Worte vor sich hin. Hier ist es nicht sicher. Gedankenversunken reibt sie sich die Hände, während sie durch die Tür zur Bibliothek streift. Nicht hier.

Vor ihrem geistigen Augen blitzt Zabels Visage auf. Noch vor zwei Tagen hätten allein seine Augen einen zornigen Bären in einen eingeschüchterten Teddy verwandelt. Vikita schreitet die langen Regalreihen ab und schaut sich jedes Buch auf das Genauste an, so als sie suche sie ein ganz bestimmtes. Ihr fällt sicher auf, dass dieser Raum weitaus weniger staubig ist als jeder andere im Haus. Es ringt ihr ein schmales Lächeln ab, bevor ihre Gedanken wieder zu Zabel flattern.

„Welches Tier?“, flüstert sie dabei. „Welches nachtliebende Tier lebt zwischen Grabmälern und kann solch einem Mann den Hals zerfetzen?“

Ein Schauer lässt sie erbeben, ohne Frage ein eisig kalter. Sie bewegt sich längst nicht mehr in Richtung der Lexika. Stattdessen schwebt ihre Hand nahe der unvollständigen Familienchronik der Fairbones. Es wäre ein äußerst aufschlussreiches Werk. Ja, ich bin der Meinung, es würde sogar Antworten auf Fragen bieten, die Vikita noch nicht zu stellen weiß. Aber diese Antworten werden warten müssen.

Unweit von Vikita räuspert Wulfstan sich. Seine Schritte sind leise und die Bibliothekstür ist als einzige frisch geölt. Sie hätte ihn nicht herannahen hören können. Doch nun sieht sie ihn: Mit hochgezogenen Schultern und nach innen gewandten Fußspitzen, die Hände hinter dem Rücken versteckt und sichtlich alle Mühe aufbringend, Vikita in die Augen zu sehen.

„Nach dem gestrigen Tag ist dies wohl kein passender Zeitpunkt und ich habe es“, Wulfstan hüstelt, „ganz sicher nicht so geplant, aber …“ Er sinkt hinab auf ein Knie. Mit geballten Fäusten stützt er sich darauf und sucht nach Worten. Ich weiß, dass er sich für diesen Moment in der Bibliothek extra einige Zeilen notiert hat, über Vikitas Lächeln und ihre Freundlichkeit, über ihre Schönheit und ihren gewitzten Verstand. Und vielleicht hätte er diese Zeilen vorgelesen, hätte er den Zettel mit ihnen in seine Hosentasche gesteckt und nicht auf dem Nachttisch liegen lassen. So wirken seine Worte an Vikita nun ungelenk und schamhaft, doch sie erwärmen ihren Blick – und sicher ebenso ihr Herz – allemal.

Als Wulfstan seine Hände öffnet und ihr den Ring seiner Urgroßmutter offenbart, da fällt Vikita ihm um den Hals. Für einen Moment erlaubt sie sich, Zabel zu vergessen.

10. Oktober

An diesem Tage ist Vikita durch den Wind, ja geradezu fahrig. Nach dem Frühstück war sie im Dorf, um mit dem Pfarrer über die Feierlichkeiten zu sprechen, aber statt einem Kirchenmann fand sie nur Seltsamkeiten. Versuchen Sie´s im nächsten Ort. Hier betet keiner mehr, wurde ihr gesagt. Und: Eine Heirat mit dem Fairbone? Sie müssen dem Wahn anheimgefallen sein. Eine alte Frau wollte ihr eigenartige Kräuter, Knollen und Salze aufdrängen und ein Junge mit schief sitzender Mütze und Flickenweste rief ihr Schönen Tod wünsche ich! hinterher. Ist ein Toter nicht genug? brummelte ein Mann in ihrem Rücken und sein Begleiter jammerte: Nochmal vierzig Jahre solch ein Grauen.

Woher ich weiß, was die Dorfbewohner alles erzählten? Nun, sie geben seit Generationen die gleichen Dinge von sich. Außerdem murmelte Vikita diese und andere ihrer Bizarrerien vor sich hin, während sie die Treppen hinauflief und in die Bibliothek der Fairbones stürmte.

Schmöker um Schmöker zog das Fräulein aus den überfüllten Regalen. Den ganzen Nachmittag lang hetzten ihre Augen durch die Chroniken der Familie.

Doch jetzt, da sich die Sonne zu senken beginnt und die Felder und Wiesen in orangefarbene Lichter hüllt, hievt sie die Bände X und XII auf ihre Arme und sucht Wulfstan auf. Sie findet ihn im nahen Lesesaal, wo er ganz in einem Ohrensessel und leichter Lektüre versunken ist.

Ohne Mitgefühl lässt Vikita die schweren Bücher in seinen Schoß fallen und entlockt ihm so ein verblüfftes Quietschen. „Ich wollte heute unseren Pfarrer aufsuchen“, verkündet sie.

„Eine Landkarte hätte dir mehr geholfen als diese hier“, antwortet Wulfstan und tippt mit dem Zeigefinger auf den obersten Buchdeckel. Dann rümpft er die Nase. „Ich hatte fast vergessen, dass wir den Pfaff brauchen. Er weiß über alles Bescheid, aber wenn du darauf bestehst, können wir ihm morgen einen Besuch abstatten.“

Vikita kreuzt die Arme vor der Brust. „Worauf ich bestehe“, sagt sie, „ist, Band XI deiner Familienchronik zu lesen.“

Wulfstan blinzelt überrascht.

„Die Dorfbewohner sind skurril“, fährt Vikita fort. „Der Friedhof hinterm Haus ist skurril. Zabels Tod war skurril und auch du …“ Sie hebt einen anklagenden Finger. „Du kannst sehr skurrile Antworten haben, wann immer ich dich etwas frage.“

„Und du glaubst“, fragt Wulfstan, „in meinen Chroniken gibt es Antworten, die weniger skurril sind?“

„Ja“, sagt Vikita überzeugt. „Andernfalls stünde sie, wo ich sie leicht fortnehmen könnte. Zwischen Band X und Band XII.“

Erst jetzt legt Wulfstan sein eigenes Buch beiseite, auf die dicken Schwarten in seinem Schoß und umklammert alle drei Bücher mit den langen Händen. Seine Fingerspitzen graben sich in Leder und Papier. „Darin stehen nur düstere Aberwitzigkeiten“, presst er hervor. „Vielleicht möchte ich nicht, dass du so etwas ließt.“

Vikita schürzt die Lippen. „Dann verweile ich heute Nacht draußen und schaue selbst, was mit dem Friedhof nicht stimmt.“

Man sieht Wulfstans Gesichtszüge entgleisen.

11. Oktober

Sehr widerwillig hatte Wulfstan Vikita den fehlenden Teil seiner Familienchronik überlassen. Daraufhin hat sie die ganze Nacht hindurch gelesen, sich zwischen vergilbten Seiten in noch vergilbtere Zeiten vertieft. Das sieht man ihr an diesem Morgen an. Als sie das Esszimmer betritt, trägt sie ihren zerknitterten Morgenmantel und dunkle Ringe unter den Augen, sind ihre Wangen blass und die Haare wüst. Sie lässt Band XI neben Wulfstans Frühstücksgeschirr fallen. Haferkleie und Kaffee erzittern.

„Guten Morgen“, sagt Wulfstan, legt das Besteck beiseite und sieht auf. Sein Gesicht scheint eingefallen. Zu viele Sorgen sind ihm seit dem vorigen Abend darüber gelaufen.

Vikita verschwendet keine Zeit mit Höflichkeiten. „Erklär mir diesen Fluch, über den da geschrieben wird“, verlangt sie und schlägt den Wälzer auf, dessen Seiten offensichtlich mit mehreren bunten Haarbändern markiert sind.

Wulfstan verzieht das Antlitz zu einer qualvollen Grimasse. Ein Fairbone spricht nicht über Flüche, nicht einmal mit anderen Fairbones. Ein Fairbone ignoriert Flüche, bis sie einen einholen. Das hat er nun von seinen Heiratsplänen.

„Das ist eine ziemlich alte Handschrift“, meint Wulfstan und klappt das Buch wieder zu. „Bist du dir sicher, dass du dich nicht verlesen hast?“

Vikitas Augen verengen sich zu dunklen Schlitzen. Energisch öffnet sie die Seiten wieder. „Verkaufe mich nicht für dumm!“, zischt sie dabei. „Du erklärst mir das hier jetzt ganz genau“, fügt sie hinzu und legt einen Finger auf eine ganz bestimmte Passage.

„Mein Urururururgroßvater hat es geschafft, verflucht zu werden“, brummt Wulfstan. „Das steht doch da. In sehr eindrucksvollen und überflüssigen Worten.“

Vikita hockt sich neben seinen Stuhl und ergreift seine Hände. „Aber ich verstehe nicht alles. Ich verstehe die Dorfbewohner nicht und auch nicht Zabels Tod. Du musst mir erzählen was du weißt und nicht in diesem Buch steht!“

Wulfstan knirscht mit den Zähnen. Sein Blick fällt auf ihren linken Ringfinger. „Ungern“, sagt er leise und hebt seine Augen wieder. „Du wirst mich danach nicht mehr haben wollen.“

Vikita drückt seine Hände. „Ich will lieber einen verfluchten Mann als einen, der mich anlügt.“

12. Oktober

Vikita sitzt auf einer der mit Kissen bestückten Fensterbänke im Salon und hat die Stirn gegen das kühle Glas gelehnt. Schon seit Stunden prasseln trübe Wassertröpfchen gegen die äußeren Scheiben. Das Fräulein sieht sie kaum. Sein Blick gilt den grauen Grabmälern, deren zierlose Schrift man von seiner Position aus nicht sehen kann. Gedankenverloren dreht Vikita den Ring an ihrer linken Hand hin und her.

„Wieso bist du nie von hier fortgegangen?“, fragt sie und lässt das Fensterglas durch ihren Atem für einen kurzen Moment beschlagen.

„Der Fluch lastet auf mir“, antwortet Wulfstan und tritt näher an sie heran, „nicht auf dem Grund und Boden. Dieser elendige Friedhof ist nicht schuld. Glaube mir, er grenzt den Fluch ein.“

Vikita schweigt. Wulfstan hat ihr bereits Rede und Antwort gestanden, sich stundenlang ausfragen lassen, aber es ist schwer, sich von einem Tag auf den anderen an eine neue Weltanschauung zu gewöhnen. „Dass es Menschen gibt, die unsterblich sind …“, raunt Vikita.

„Oh, nein, die sind alle mehr als tot“, sagt Wulfstan und sieht ebenfalls zum Fenster hinaus. „Sie wagen sich nur manchmal wieder auf die Erde zurück.“ Er tippte gegen das Glas und deutete auf einen verschwommenen Grabstein in der dritten Reihe. „Großonkel Amury ist der Schlimmste.“

Wulfstans letzten Kommentar sichtlich ignorierend fährt Vikita fort: „Sind sie wie Geister? Sind ihre Seelen hier gefangen?“

„Die meisten sind weitaus blutrünstiger als Geister. Du hast Zabel gesehen. Und ihre Seelen sind vermutlich verrottet.“ Wulfstand Hand gleitet von der Fensterscheibe und lässt sich auf Vikitas Schulter nieder. „Ich wünschte, ihre Körper würden auch verrotten.“

„So funktionieren Seelen nicht!“, meint Vikita leicht entrüstet.

Gleichgültig zuckt Wulfstan mit den Schultern. „Von Seelen und vom Jenseits verstehen wir Fairbones nichts. Wir kennen nur das Sterben.“

Die beiden verfallen in nachdenkliches Schweigen. Vikita greift nach ihrer Schulter und hält Wulfstans Hand an Ort und Stelle. Couragiert lehnt sie sich in seine Seite, während sie weiter zum regendurchweichten Friedhof hinaussehen.

Erst ein Räuspern lässt sie auseinanderspringen. Beth steht in der Türe und blickt verschämt zu Boden. „Verzeihung“, sagt sie leise. „Aber Herr und Frau Rosenherz sind soeben eingetroffen.“

Überrascht – wenn nicht sogar bestürzt – schaut Vikita zu Wulfstan auf. „Hast du davon gewusst?“, möchte sie wissen.

„Definitiv nicht“, brummt er. Ein dunkler Schatten flackert über seine Augen.

13. Oktober

Wulfstan fand schnell heraus, dass es außerhalb fluchbeladener Friedhöfe etwas Schlimmeres als böse dreinschauende Wachhunde gab: Eltern.

Sein einziger Trost war es, Vikitas heimliches Augenrollen zu sehen, wann immer Herr und Frau Rosenherz sich beste Mühe gaben, den Alltag auf dem Anwesen Fairbone zu übernehmen. Es entlockte ihm jedes Mal ein dünnes Lächeln. Nach dem Mittagessen – und einem sehr ermüdenden Vortrag über Finanzen seitens Herrn Rosenherz – hatte Vikita sich alle Mühe gegeben, zumindest ihren Vater aus dem Weg zu schaffen. Verzeihung, das klingt drastischer, als es sich zugetragen hat. Herr Rosenherz zog sich lediglich zu einem Schläfchen zurück.

Vikitas Mutter war jedoch anders. Sie hakte sich bei Wulfstan unter und bestand darauf, sich von ihm jeden noch so glanzlosen Winkel des Anwesens zeigen zu lassen, wobei sie kein Staubkorn unkommentiert ließ.

So kam es, dass Frau Rosenherz jetzt gerade – einen unbeteiligten Wulfstan hinter sich stehend – zu eben jenem Fenster hinaussieht, an dem Vikita tags zuvor gesessen hat, die Hand über das Herz legt und ausstößt: „Oh, wie gräulich! So viele Grabsteine im Garten.“

Wulfstan öffnet den Mund – ganz sicher um ihr den Friedhof auf irgendeine fluchlose Art zu erklären –, doch sie fährt ihm darüber: „Da ist ja gar kein Platz. Wo sollen später nur die ganzen Kinder spielen?“

Verwirrt blinzelt Wulfstan. „Die … ganzen Kinder?“, wiederholt er. „Über wie viele Kinder sprechen wir hier? Und wessen?“

Aber Frau Rosenherz tippelt bereits von dannen, um den Kronleuchter altmodisch zu nennen. Sie verlässt den Raum – nicht ohne die Chaiselongue mit einem abschätzenden Blick als zu hart zu befinden – und kreuzt die Eingangshalle. Dabei fällt ihr der Stammbaum der Fairbones ins Auge. „Wie schade!“, verkündet sie. „Da ist gar kein Platz mehr für unsere Vikita und alle eure Kinder.“

„Alle Kinder?“, wiederholt Wulfstan, der ihr hinterhergeeilt war, erneut. An seinem Blick kann man deutlich erkennen, dass er nie zu viel an die Zeit nach der Hochzeit gedacht hat. Spontan deutet er mit dem Zeigefinger auf eine Ecke des Stammbaumes. „Da ist definitiv noch Platz für Vikita.“ Er zögert. „Und ein Kind“, ergänzt er verhalten. Dass Papier und Malerei sich mit jeder neuen Generation augenscheinlich von selbst erweiterten erwähnt er wohlweißlich nicht.

„Ein Kind!“, lacht Frau Rosenherz, dreht sich um und wechselt abrupt das Thema: „Wir müssen noch ein Wörtchen über die Vorhänge im Salon sprechen.“

Wulfstan sieht über seine Schulter, doch sein Blick geht durch die Wände des Hauses hindurch. „Wie schlimm kann es werden“, wispert er vor sich hin, „heute Nacht draußen zu schlafen?“

14. Oktober

An diesem Tage wäre Vikita in den Ort gefahren – und sie hätte ihn wohl genossen, diesen kleinen Ausflug allein mit Beth – aber Frau Rosenherz‘ Pläne waren andere. Wieso sich in diese elendig moderne Elektrokutsche zwängen (ihre Worte, nicht meine), wenn man die Schneiderin auch einbestellen und das Hochzeitskleid Zuhaus anpassen lassen konnte?

Die Männer, insbesondere Wulfstan, waren ins Obergeschoss verbannt, als Vikita im schlichten weißen Kleid auf einen Hocker im Ballsaal steigt. Ihre Mutter bemängelt die Knappheit an Rüschen und Reifen und Stickereien und zupft mehr an ihr herum als die Schneiderin. Sie zupft so viel, dass etwas in Vikita schnappt und sie ihre Mutter regelrecht anfährt: „Nimm die Hände weg!“

Schmollend legt Frau Rosenherz zwei Finger an Vikitas Taille. „Hier muss das aber noch enger“, bestimmt sie.

„Muss es nicht“, brummt Vikita. „Ich muss atmen können, um Ich will zu sagen.“ Sie wirft der Schneiderin einen scharfen Blick zu. Eine Warnung, auch nur dem kleinsten Wunsch ihrer Mutter nachzukommen. Dann richtet sie ihre Augen auf Frau Rosenherz und sagt langsam und ernsthaft: „Mach mir jenen Tag nicht zum Albtraum!“

Für den Bruchteil einer Sekunde schaut Vikita zum Fenster hinaus. Wer kann schon sagen, ob sie den Friedhof oder die Kapelle dahinter wahrnimmt?

15. Oktober

Wulfstan nickt zum wiederholten Male und summt zustimmend, obwohl er bereits längere Zeit nicht mehr zuhört. Denn Herr Rosenherz hat sich in einem seiner Vorträge zum Thema Zukunftsabsicherung und findige Investitionsmöglichkeiten festgelaufen. Er schreitet dabei den Mittelgang der Bibliothek ab und wirft jedem fiktiven Werk abschätzige Blicke zu. Als er bemerkt, dass Wulfstan ihm kaum Gehör schenkt, zieht er seufzend Band IV der Fairbone-Chroniken aus dem Regal und blättert darin. „Etwas überschwänglich geschrieben, nicht wahr?“, merkt er nach einer Weile an. „Zu lange Sätze mit zu blumigen Worten. Annalen sollten prägnant sein, nur das Wichtigste umfassen.“

Recht abrupt nimmt Wulfstan ihm den Folianten ab. Dafür bin ich ihm dankbar. Ich muss gestehen, ich mag keine laienhafte Kritik. Schon gar nicht an meinen früheren Werken.

Behutsam schiebt Wulfstan Band IV zurück in die klaffende Lücke. Seit seinen Kindertagen ist er sehr liebevoll im Umgang mit Büchern.

„Ich mag diese … blumigen Worten“, sagt er in aggressivem Ton. Es ist nicht die eindrucksvollste Verteidigung, die man sich wünschen kann, aber immerhin wird meine Arbeit gewürdigt.

Herr Rosenherz brummelt etwas in seinen gestutzten Bart, das nicht vollständig an meine Ohren dringt, sich aber im Tonfall ein wenig beleidigend anhört. Vielleicht bin ich jetzt aber auch zu voreingenommen.

Wulfstan wirft einen hastigen Blick in Richtung des Lesepults, an dem ich meist schreibe. „Wir sollten gehen“, drängt er.

Ich finde die Idee äußerst angenehm und tue etwas, das ich seit langer Zeit nicht getan habe: Ich reiße die Türe auf. Gleichzeitig rüttelt ein scharfer Herbstwind an den Fenstern. Herr Rosenherz fröstelt. „Was war das?“, will er wissen. Ich bin kurz davor, ihm meine neusten Seiten um die Ohren zu hauen.

„Niemand“, antwortet Wulfstan schlicht.

16. Oktober

Die Nacht ist bereits hereingebrochen und alle gegenwärtigen Bewohner des Anwesens träumen in ihren Betten. Wirklich alle? Es scheint nicht so. Ich kenne jedes Geräusch, dass dieses Haus je von sich gegeben hat, und das Tippeln, das ich soeben vernehme, gehört nicht dazu. Ein kurzer, heimlicher Blick in den Korridor verrät, dass das Fräulein Vikita nicht einschlafen kann.

Sie schleicht umher, ein Büchlein unter dem Arm – es mögen Märchen oder Gedichte sein – und gibt sich alle Mühe, zu gähnen. Doch ihr Blick ist wach und ihr Herz schlägt munter. Ihre baren Füße tragen sie die Treppen hinunter gen Küche, aber dann biegt sie doch noch ab. Das silbrige Licht des beinah runden Mondes flutet durch die offene Salontür. Es zieht Vikita geradezu magisch an. Sie drückt das Büchlein gegen ihre Brust und tapst weiter. Eine Diele knarrt unter ihrer Ferse. Davon lässt sie sie sich jedoch nicht beirren. Ihre Aufmerksamkeit gilt ganz allein dem schwarzen Himmel mit seinen abertausenden, bronzenen Punkten. Das Funkeln in ihren Augen verrät, dass sie sich früher nie Zeit genommen hat, Sternbilder zu lesen. Vielleicht ist es das Anwesen mit seinen Geschichten, das sie den Zauber in solch einfachen Dingen erkennen lässt. Wahrscheinlicher liegt es an Wulfstan.

Vikita steht nun an einem der hohen Fenster, den Kopf in den Nacken gelegt und die Wange gegen das kalte Glas gedrückt. So entzückt ist sie von Sternen und Mond, dass sie die Schatten nicht bemerkt, die sich in der erdigen Dunkelheit regen. Getrost summt sie ein unschuldiges Kinderlied, bis sich auf der Fensterscheibe plötzlich nicht nur ihre eigenen Augen abzeichnen.

Sie stolpert zurück, weg vom Fenster. Ihr Atem kommt einem stimmlosen Schrei gleich. Das Büchlein rutscht ihr aus den Händen.

Auf der anderen Seite der Scheibe steht eine gekrümmte Gestalt, einem grauen Albtraum gleich, mit spinnwebenweißer Haut und blutverkrusteten Augen. Schatten verzerren das Gesicht so sehr, dass Vikita nur die scharfen, schnappenden Zähne erkennen kann. Das Albtraumwesen hebt einen merkwürdig entrückten Arm. Die knöchernen Finger enden in so langen Nägeln, man kann sie schon als Klauen bezeichnen. Es krallt und kratzt und grapscht, doch die Fensterscheibe kann es nicht berühren.

Vikita beruhigt das wenig. Schwer atmend, mit rasendem Herzen, bewegt sie sich rückwärts. Immer weiter. Weg von dem Albtraumwesen. Beinahe kreischt sie, als sie in etwas – nein, jemanden – stößt.

Wulfstan legt einen beschützenden Arm um ihre Schultern und einen Finger an ihre Lippen. „Schhh“, raunt er. „Du willst deine Eltern doch nicht wecken.“

Vikita hört ihn kaum. Sie dreht sich weg von den Schatten vor dem Fenster und vergräbt ihr Gesicht an Wulfstans Brust.

„Sie können nicht herein“, versucht er sie zu besänftigen und legt beide Arme fest um ihren zitternden Leib. Er wirft einen Blick nach draußen und ergänzt: „Tante Coletta war schon zu Lebzeiten unhöflich. Kümmere dich nicht um sie.“

Vikitas Finger klammern sich an sein Nachthemd. „Sind sie alle so?“, fragt sie leise. Ihre Stimme bricht.

Wulfstans Körper wird ganz steif, als er bejaht.

„Wird es dir einmal so gehen?“

„Höchst wahrscheinlich“, antwortet er und schließt die Arme noch enger um sie. Er kann es kaum ertragen, dass Vikita die Wahrheit über die Fairbones nicht nur kennt, sondern obendrein auch noch gesehen hat. Man kann es deutlich von seinem Gesicht ablesen. Es macht ihm mehr Angst als die Nacht nach dem Tod seinen Großvaters vor zwei Dekaden.

„Bleib bei mir, ja?“, bittet Wulfstan und streichelt Vikita mit dem Fingerrücken über die Schläfe. „Bleib bei mir.“

17. Oktober

„Tut mir leid“, sagt der junge Herr und nimmt seinen Zylinder. Seine Stimme klingt wenig leidvoll. „Es ist kein Platz mehr im Automobil.“

Herr Rosenherz stapft hinter ihm her. „Bist du dir sicher?“, fragt er, denn ihm ist offensichtlich nicht wohl dabei, seine Tochter allein mit ihrem Verlobten und einer Dienerin fahren zu lassen.

„Definitiv“, versichert Wulfstan. Herr Rosenherz möchte widersprechen, doch da ist der junge Herr schon zur Tür hinaus. Das schwere Blatt schlägt mir vor der Nase zu und ich muss es erst wieder mühevoll aufstemmen. Ich nehme es dem jungen Herrn nicht übel. Chronisten bewegen sich auf unsichtbaren Pfaden – ich im Besonderen. Herr Rosenherz schaut uns mit leichtem Entsetzen nach.

Draußen steht das Gefährt bereit. Vikita und Beth haben schon auf der Rückbank Platz genommen. Wulfstan zwängt sich hinter das Steuer und fährt wortlos an. Ich muss gestehen, ich bin ein wenig aufgeregt. Es geschieht nicht oft, dass ich vom Anwesen fortkomme. Das Schicksal eines jeden Chronisten.

Die erste Etappe der Landstraße wird vollkommen schweigsam zurückgelegt. Beth besieht sich die vorüberziehende Natur, Vikitas Geist scheint ganz woanders. Sie wirkt noch ein wenig blass um die Nase. Nach einer Weile wirft Wulfstan einen Blick über seine Schulter. „Geht es dir besser?“, fragt er besorgt.

Beth horcht sofort auf und hakt nach, aber Vikita beruhigt sie eiligst mit einer Lüge. „Ich hatte einen Albtraum“, sagt sie. „Letzte Nacht.“

„War er sehr schlimm?“, möchte Beth wissen. Vikita richtet ihre Augen auf Wulfstan und antwortet: „Er macht mir immer weniger Angst.“

Wulfstans Mundwinkel zucken. Wer ihn gut genug kennt, weiß, dass er lächelnd weiterfährt.

Es dauert keine Stunde, dann hält er vor einem schlichten Haus. Es ist ein Pfarrhaus und drin wohnt Pfarrer Pfaff.

Während die kleine Reisegemeinschaft aussteigt, betrachtet Wulfstan das schmale Kreuz über dem Türsturz zähnebleckend. Für ihn ist dieser Besuch eine Notwendigkeit, kein Vergnügen. Er klopft an die Tür und kurz darauf wird sie von einem älteren Mann geöffnet. Nun, er ist nicht so alt wie ich, aber doch älter als Herr Rosenherz. Er ist Pfarrer Pfaff und begrüßt seine Gäste überschwänglich. Drinnen bietet er Tee und Gebäck an, bevor er zum eigentlichen Thema kommt: Der Fairbone-Rosenherz-Trauung.

„Ich kenne Ihre Familie“, sagt Pfaff und sieht Wulfstan mit einem Lächeln an. „Die Fairbones haben sich schon lange von der Kirche entfremdet. Sie wollen die gesamte Zeremonie so wenig religiös wie möglich halten, nicht wahr?“

„Ich würde sagen, Gott hat sich von uns entfremdet“, entgegnet Wulfstan. Er spielt ein Spiel mit dem Herrn Pfarrer. Das einzige gottgleiche Wesen, an das Wulfstan glaubt, ist Gevatterin Tod.

„Und die Einzelheiten der Trauung besprechen Sie bitte mit Fräulein Rosenherz“, fährt der junge Herr fort. „Sie soll alles bekommen, was sie möchte, denn sie verdient alles, was sie möchte. Ich habe nur eine einzige Bitte: Ihren Namen anzunehmen.“

Obwohl die Worte an Herrn Pfaff gerichtet sind, sieht Wulfstan Vikita an. Sie soll wissen, wie ernst es ihm damit ist.

„Mehr als ungewöhnlich“, meint Pfaff. Aber niemand hört ihm zu. In diesem Moment gibt es nur Wulfstan und Vikita. Nicht einmal Gevatterin Tod könnte sie in diesem Augenblick auseinanderreißen.

18. Oktober

Herr Rosenherz betritt Wulfstans Arbeitszimmer, ohne anzuklopfen. Er besitzt nicht einmal die Höflichkeit, Guten Morgen zu sagen. „Was muss ich da hören?“, sagt er stattdessen. „Wieso soll meine Tochter deinen Namen nicht annehmen? Glaube nicht, dass du Oberhaupt unserer Familie werden kannst. Dafür ist Vikitas Bruder vorgesehen. Oh, ich hätte mitkommen sollen zum Pfarrer.“ Er hört gar nicht mehr zu reden auf. All seine Worte mitzuschreiben, würde den Rahmen sprengen.

Wulfstan sitzt geduldig an seinem Schreibtisch, die Hände im Schoß verschränkt, und wartet, bis Herr Rosenherz‘ Tirade nach einer Atempause verlangt. Dann deutet er mit der offenen Hand auf den Mann, der ihm gegenüber sitzt und den Herr Rosenherz bisher völlig übergangen hat, und sagt: „Darf ich vorstellen? Herr Leonhardt, mein Anwalt.“

Herr Rosenherz‘ Augen flackern zwischen den beiden hin und her. „Solltest du nicht bei den letzten Hochzeitsvorbereitungen helfen?“, grummelt er dann.

„Das tue ich gewissermaßen“, erwidert Wulfstan. „Sollten Sie als Geschäftsmann nicht die Hilfe eines guten Anwalts zu schätzen wissen?“

„Und was ist die Ehe anderes als ein Geschäft, nicht wahr?“, witzelt Herr Leonhardt. Er ist der einzige, der lacht, auch wenn es ein charmantes Lachen ist.

Herr Rosenherz reckt den Hals, um die Dokumente auf Wulfstans Schreibtisch lesen zu können. Er verlangt zu wissen, ob Herr Leonhardt dort einen Ehevertrag aufsetzt und welche Ungeheuerlichkeiten Wulfstan ihn hineinschreiben lässt.

„Das ist mein Testament“, korrigiert Wulfstan verwundert. Ein zeitiges Ableben kommt ihm so viel wahrscheinlicher als eine Scheidung oder dergleichen vor. „Ich will sicherstellen, dass Vikita im Falle meines Todes auch wirklich alles bekommt: Land, Geldmittel, sonstige Besitz- und Eigentümer … Daran können Sie ja wohl nichts aussetzen?“

Mit faltigen Schluchten auf der Stirn und zusammengekniffen Augen grummelt Herr Rosenherz vor sich hin: „Nur deinen Namen soll sie nicht bekommen. Irgendetwas stimmt doch nicht mit dir. Na, ich werde schon herausfinden, was es ist.“

Wulfstan stapelt die Finger. „Und was tun Sie, wenn Sie es herausgefunden haben? Ich verrate Ihnen etwas: Nichts und niemand in dieser oder der nächste Welt, kann diese Hochzeit noch verhindern. Warum entspannen Sie sich also nicht?“

Herr Rosenherz hebt drohend den Finger, doch ihm fällt so schnell keine Antwort ein.

„Ich verrate Ihnen auch noch etwas“, fährt Wulfstan fort. „Dieses Anwesen hat die Angewohnheit, Leute zu verschlingen. Fragen Sie Zabel.“

„Drohen Sie mir?“, stößt Herr Rosenherz aus. Seine Augen sind nun geweitet – vor Zorn, vor Furcht, vor vielen unangenehmen Dingen – und richten sich auf Leonhardt. „Können Sie solche Drohungen gutheißen?“

Herr Leonhardt kratzt sich am Kinn. „Als Anwalt kann ich Ihnen versichern, das war keine Drohung. Das war ein gutgemeinter Rat, diesen Raum jetzt zu verlassen.“

Herr Rosenherz bewegt sich rückwärts. Ich halte die Tür für ihn weit geöffnet und er nimmt die Beine in die Hand. Er will nicht verschlungen werden.

19. Oktober

Die Vermählung klopft schon bald an die Tür, weshalb Frau Rosenherz ihre Tochter an diesem Vormittag in die Küche gezerrt hat, um mit Frau Esner das Menü für die Feierlichkeiten zu besprechen. Frau Esner ist Köchin und seit vielen Jahren die einzige Person, die Wulfstan auf dem Anwesen beschäftigt. Noch dazu ist sie eine der wenigen Leute – momentan sind es genau drei –, von denen Wulfstan fest glaubt, nie vergiftet zu werden. Es ist keine spezielle oder vage Angst von ihm, vergiftet zu werden; er betrachtet nur gerne alle möglichen und unmöglichen Eventualitäten.

Die drei Frauen stehen jetzt jedenfalls um ein Schlachtfeld aus Rezepten und Frau Esners Miene ist dabei bitterer als ihre selbstgemachte Orangenmarmelade.

„Das können Sie doch nicht alles allein kochen“, murmelt Frau Rosenherz.

„So viele Gerichte werden ja auch nicht benötigt“, erwidert Frau Esner und wischt mehrere Rezeptkarten, die Frau Rosenherz dazugelegt hatte, an den Tischrand.

„Ich werde Wulfstan sagen, dass wir noch ein Küchenmädchen benötigen“, spricht Frau Rosenherz weiter.

„Tun wir nicht“, beharrt Frau Esner. Zwar würde sie nie den jungen Herrn vergiften, doch ihr Tonfall lässt vermuten, dass sie bei manch anderem zumindest darüber nachdächte. „So viele Gäste kommen ja auch nicht“, erklärt sie. Sofort beginnt Frau Rosenherz, Angehörige und Freunde ihrer Familie an den Fingern abzuzählen. Vikita stoppt sie mit einer Hand auf der Schulter. „Aber von Wulfstans Seite wird niemand kommen“, sagt das Fräulein. Seine Mutter runzelt die Stirn und fragt: „Gar niemand?“

„Gar niemand“, bestätigt Frau Esner und schlägt ein ein Küchenbeil in die Tischplatte, was Frau Rosenherz dazu veranlasst, von ihr abzurücken. Derweil tippt Vikita auf einige wenige Rezepte und verkündet, am fraglichen Tage Wulfstans Leibgerichte essen zu wollen.

„Dann hoffe ich“, sagt Frau Esner, während ihre Finger über den Schaft des Küchenbeils tanzen, „Sie mögen den Kuchen herb und das Fleisch blutig.“

20. Oktober

Es ist recht überraschend, als sich der junge Herr und Frau Rosenherz an diesem Vormittag in der Empfangshalle über den Weg laufen. Wulfstan war sein ganzes Leben lang nicht der geselligste Mensch gewesen und ist so auch in der letzten Woche dazu übergegangen, Herrn und Frau Rosenherz möglichst aus dem Weg zu gehen. Im Moment geht er sogar so weit, ein Buch vor sein Gesicht zu heben und seinen Rücken gegen die Wand zu pressen, im Versuch mit dem olivfarbenen Muster der Tapete zu verschmelzen. Frau Rosenherz sieht ihn dennoch, wankt auf ihn zu und drängelt ihm gleich mehrere Gespräche auf. Wulfstan nickt und summt, wie er es bei Herrn Rosenherz‘ Finanzvorträgen zu tun pflegt, bis Frau Rosenherz nach seiner leeren Gästeliste fragt.

Er gestikuliert zu seinem Stammbaum hinter ihm an der Wand und antwortet: „Versuchen Sie gern, einen Verwandten zu finden, zu dem es kein Sterbedatum gibt.“

Damit gibt Frau Rosenherz sich nicht zufrieden. Sie erkundigt sich nach seinem Freundeskreis. Für einen Moment schaut Wulfstan abschätzend ins Nichts. Als seine Augen Frau Rosenherz wiederfinden, legt er die Stirn in Falten. „Verzeihen Sie mir dir Forschheit, aber sie wirken ein wenig grünlich im Gesicht“, merkt er an und fügt hinzu: „Ich habe Sie auch nicht beim Frühstück gesehen.“

Frau Rosenherz legt eine Hand gegen ihre klamm wirkende Stirn und lächelt schwach. „Ich fühle mich auch nicht besonders“, sagt sie. „Fast hätte ich gesagt, ich hätte etwas Falsches gegessen, aber wir hatte ja alle dasselbe Abendessen.“

Wulfstans Blick wandert zum Korridor, der an der Küche vorbeiführt. „Sollte man meinen“, raunt er.

21. Oktober

Wulfstan zieht sich einen Mantel über und nimmt seinen Hut. Er muss zu einem Geschäftstermin in die Stadt. Es wird eine lange Fahrt mit dem Automobil werden, sodass er wohl erst morgen wiederkehren wird. Vikita knüpft einen Schal um seinen Hals, als sie ihn bittet, sie mitzunehmen.

„Auf keinen Fall tut er das“, antwortet Herr Rosenherz an Wulfstans statt, während er, ohne von der Tageszeitung aufzusehen, vom Esszimmer in den Salon wechselt.

„Wir könnten Beth mitnehmen“, schlägt Vikita vor, doch Wulfstan lächelt entschuldigend. „Glaubst du wirklich“, fragt er, „dein Herr Papa würde dich und eine weitere junge Dame allein mit mir über Nacht in der großen Stadt lassen?“ Er schüttelt den Kopf. „Wohl kaum. Nachher will er noch selbst mitkommen.“

Ein leichtes Schmollen tritt auf Vikitas Antlitz.

„Wenn ich wiederkommen“, verspricht Wulfstan eilig, „bringe ich dir und Beth das Autofahren bei. Dann könnt ihr fortan auch allein in die Stadt fahren.“

Dankbar möchte Vikita ihre Arme um seine Schultern werfen, aber da taucht Herr Rosenherz wieder in der Salontür auf. Diesmal blickt er über den Rand der Zeitung hinweg. „Nichts dergleichen wirst du meinem Mädchen beibringen!“

Mit wenigen langen Schritten steht Wulfstan vor ihm und senkt die Stimme: „Bald ist Sie nicht mehr Ihr Mädchen. Dann ist sie meine Frau. Und sie kann lernen, was auch immer sie möchte.“

Herr Rosenherz lässt die Zeitung gänzlich sinken. Seine Wangen werden abwechselnd rot und weiß. Wulfstan weiß genau, was er ihm da antut. Das kann man in seinen Augen sehen.

„Pass ja auf!“, knurrt Herr Rosenherz. „Noch kann ich diese Heirat abblasen.“

„Ich bitte Sie“, erwidert Wulfstan. „Nicht einmal meine Angehörigen könnten sie noch verhindern.“ Damit geht er wieder zu Vikita hinüber und küsst zum Abschied ihre Hand.

„Meiner Mutter geht es immer noch schlecht“, fällt dem Fräulein ein. „Kannst du ihr ein Mittel aus der Apotheke mitbringen? Irgendeines?“

„Irgendeines könnte sie umbringen“, antwortet Wulfstan, ohne ihre Hand loszulassen, und Vikita beteuert ihr Vertrauen in ihn. Er dreht ihre Hand und küsst auch noch die Innenseite ihres Handgelenks, während Herr Rosenherz im Hintergrund zu schäumen beginnt.

„Schere dich zu deinem Termin!“, grollt er aufgebracht.

Wulfstan rückt seinen Hut zurecht, streicht seinen Mantel glatt und geht – nicht ohne Vikita ein letztes Lächeln zu schenken.

22. Oktober

Es ist düster, obwohl die Vorhänge weit zurückgezogen sind. Die kühle Sonne wird von einer dicken Decke aus schwarzen Wolken erstickt. Regen prasselt unermüdlich gegen die Fensterscheiben. Vikita hört ihn nicht. Sie hat auch nicht bemerkt, dass Blitz und Donner inzwischen abgeklungen sind. Sie sitzt am Bett ihrer Mutter, hält ihre klamme Hand und flüstert ihr Belanglosigkeiten zu: Dass sie etwas trinken müsse, dass sie zur Hochzeit doch wieder gesund sein müsse, dass Beth zu Weihnachten wunderbare Schals stricke.

Schon den lieben langen Tag redet Vikita so auf sie ein. So bekam sie nicht mit, als Frau Esner ihr etwas zu essen brachte, als Herr Rosenherz nach dem Rechten sah oder als Beth sie von ihren Sorgen ablenken wollte. So bekommt sie auch jetzt die zuschlagende Haustür nicht mit.

Im Erdgeschoss schält sich Wulfstan aus seinem durchweichten Mantel und wirft den tropfenden Hut auf einen Kleiderständer. Auch seine Hosen sind mit nassen Flecken bestückt. Zitternd tauscht er die matschigen Stiefel gegen Hausschuhe.

Beth eilt ihm entgegen und schickt ihn sogleich ins Obergeschoss zu den Gästegemächern. Sofort hetzt er die Treppen hinauf, nimmt zwei Stufen mit je einem Schritt. Am Zimmer des Ehepaars Rosenherz klopft er. Es ist vermutlich das erste Geräusch, das Vikita heute wirklich wahrnimmt. Sie lässt Wulfstan herein und schließt ihn freudig in die Arme. Er entschuldigt sich für sein spätes Kommen, das Gewitter hätte ihn aufgehalten.

„Du bist ja jetzt hier“, strahlt Vikita. Ihr Gesicht fällt, als sie wieder zu ihrer Mutter schaut. „Letzte Nacht ging es ihr plötzlich immer schlechter und schlechter. Hast du vielleicht ein Medikament mitgebracht?“

Wulfstan nickt und zieht eine knittrige Papiertüte unter seiner Weste hervor – da hatte er seinen Einkauf vor dem Regen bewahrt. Aber er holt das Mittel nicht heraus, sondern drückt Vikita die ganze Tüte in die Hand.

Denn Wulfstan sieht vor sich nicht dasselbe Bild wie Vikita. Die Augenbrauen zusammengezogen tritt er ans Bett, beugt sich über Frau Rosenherz und presst zwei Finger unter ihr Kinn, gegen die Halsschlagader. Dann legt er seine Finger über ihre verfärbten Augen und drückt die Lider herunter.

Vikita beobachtet ihn mit einem Schimmern in den eigenen Augen, das ihm verrät, sie hofft noch immer auf die Genesung ihrer Mutter.

Wulfstan stellt sich so vor seine Verlobte, dass sie die Leiche nicht mehr sehen kann, dass sie ihn anblicken muss. Plötzlich schnieft Vikita, begleitet von einem wehklagenden Ton. Der Ausdruck in Wulfstans trüben Iriden lässt sie die Realität sehen. Sie sinkt gegen seine Brust und er drückt sie mit einem Arm an sich, streicht ihr durch die weichen Haare.

„Das war nicht euer Fluch, oder?“, schluchzt Vikita nach einer endlos langen Weile.

„Wohl kaum“, antwortet Wulfstan schlicht. Als das Fräulein nicht hinsieht, hebt er Frau Rosenherz‘ Lippe mit dem kleinen Finger, sodass er Zähne und Fleisch darunter sehen kann. Er ist sich wohl sicher, dass die Frau weder von Krankheit noch einem Untoten niedergestreckt wurde.

23. Oktober

Auch gegen Abend sind Vikitas Augen noch immer rot vom vielen Weinen. Es wäre ihr tatsächlich lieber, ein toter Fairbone hätte ihre Mutter dahingerafft, denn dann könnte sie jemandem die Schuld an ihrem Schmerz geben. So sitzt sie in Wulfstans Lesesessel, ein aufgeschlagenes Buch auf dem Schoß, auf dessen Inhalt sie sich nicht konzentrieren kann. Selbst als Wulfstan zu ihr tritt, stiert sie weiter ohne Sinn auf die Seiten.

„Wie geht es dir?“, erkundigt der junge Herr sich und kniet vor dem Sessel nieder.

„Besser“, antwortet Vikita mit rauer Stimme. „Jede Stunde eine Haaresbreite besser.“ Sie hebt den Blick. Ihre Stirn kräuselt sich. Sie sieht den Gedankensturm hinter Wulfstans Augen, den er zu verstecken versucht, seit er aus der Stadt zurückgekehrt ist. „Und was spukt dir durch den Kopf?“

Wulfstan presst die Lippen aufeinander, legt eine Hand auf die Armlehne des Sessels und schaut in jede Ecke des Zimmers, nur nicht zu Vikita. Schließlich nuschelt er: „Ich möchte die Hochzeit verlegen.“

Empört springt Vikita auf. Ihr Buch poltert zu Boden. Behutsam hebt Wulfstan es auf und glättet eine geknickte Seite.

„Wie kannst du unsere Hochzeit herauszögern wollen?“, entrüstet das Fräulein sich. „Nur sie gibt mir heute Hoffnung!“

„Da habe ich mich missverständlich ausgedrückt“, meint Wulfstan. „Ich möchte sie vorverlegen. Einen Tag, am besten zwei.“

Diese Aussicht scheint Vikita ebenso wenig zu gefallen. Mürrisch erkundigt sie sich nach seinen Gründen.

„Als ich in der Stadt war“, erzählt Wulfstan, „habe ich erfahren, dass es in acht Tagen eine Sonnenfinsternis geben soll. Jedes Jahr, in den Stunden vom 31. Oktober zum 1. November, verschwimmt die Grenze zwischen dem Totenreich und unserer Erde. Die ganze Nacht ist ein Gefecht gegen Geister, Wiedergänger und alles Unheilige. Nicht nur auf unserem Grund und Boden, im ganzen Land, ja auf der ganzen Welt. Kannst du dir vorstellen, wie es sein wird, wenn diese Nacht schon gegen Mittag beginnt?“

Vikita durchfährt ein Schauer. Gleich darauf ergreift sie Wulfstans Hände und zieht ihn auf die Beine. „Dann heiraten wir doch später und in acht Tagen fahren wir von hier fort.“

Wulfstan blinzelt überrascht. „Fahren wohin? Hast du nicht gehört, dass ich auf der ganzen Welt gesagt habe? Heirate mich vorher und gemeinsam überstehen wir jenen Tag und jene Nacht.“ Er drückt ihre Hände und beteuert: „Ich überlebe sonst nicht ohne dich. Ich brauche dich.“

Vikita scheint gerührt, obwohl der Schmerz in ihren Augen unbändig ist. „Ich habe dich liebgewonnen“, antwortet sie, „und ich glaube fest daran, dass ich dir inzwischen ebenso wichtig bin. Aber als du vor Wochen meinen Vater aufsuchtest, hast du eine Braut gesucht, nicht mich. Also sag nicht, du brauchst mich. Du hättest jede genommen.“

Wulfstans Kopf ruckt, als hätte sie ihn geohrfeigt. Erschrocken lässt er sie los. Die Konfusion auf seinem Gesicht ist groß. Mit steifen Händen greift er wieder Vikitas. „Ja“, sagt er langsam. „Wahrscheinlich hätte ich jede genommen, aber nur dich hätte ich behalten.“ Seine Daumen malen ungelenke Kreise auf ihre Handrücken, als weiterspricht: „Nur du wärst mir lieb und teuer geworden, nur dir hätte ich von meinen Bürden erzählt, nur dich würde ich anflehen, mich so schnell wie möglich zu ehelichen.“

Die Worte lullen Vikita ein, lassen ihr Herz erweichen.

24. Oktober

Herr Rosenherz hat das Frühstück an diesem Morgen nicht gut verkraftet. Er ärgert sich maßlos über die Neuigkeit, dass Wulfstan und Vikita die Trauung vorverlegen möchten, obwohl seine Gattin noch nicht einmal unter der Erde ist. Der junge Herr hat ihn dabei angelogen, hat gesagt, die Kapelle müsse noch vor dem ersten Frost repariert werden und dass die einzigen Handwerker, die er anheuern konnte, darauf bestanden, mit den Arbeiten am 31. zu beginnen. Herr Rosenherz wittert Lunte und stürmt durch das Haus, um in der Kapelle selbst nach dem Rechten zu sehen.

„Tun Sie das, tun Sie das“, sagt Wulfstan, während er ohne Eile hinter ihm herläuft. „Aber gehen Sie vorne raus, umrunden Sie das Grundstück und betreten Sie die Kapelle von hinten.“

„Warum sollte ich solch einen Unsinn machen?“, erwidert Herr Rosenherz aufgebracht und reißt die Glastüren zum Garten auf.

„Weil Sie sonst über den Friedhof müssen“, antwortet Wulfstan in recht sorglosem Ton. „Und der Himmel ist schon den ganzen Vormittag so trübe und bedeckt, man könnte meinen, die Sonne wäre heute gar nicht aufgegangen.“

Herr Rosenherz schnaubt verächtlich und stapft hinaus. Wulfstan ruft ihm laut hinterher: „Das sollten Sie wirklich nicht tun!“

Aber Herr Rosenherz setzt seinen Weg unbeirrt fort, zwischen die Grabsteine.

„Hoppala, jetzt ist er doch wirklich hinausgerannt“, sagt Wulfstan, ausnahmsweise an mich gerichtet, obwohl er weiß, dass ich selten antworte.

Im nächsten Augenblick schon zerreißt ein gellender Schrei die kühle Luft. Wulfstan beugt sich vor, allerdings nicht aus dem Türrahmen hinaus, und erkennt, dass Herr Rosenherz‘ linkes Bein bis zu Wade im Grab von Amury Fairbone versunken ist. „Also wirklich“, murmelt Wulfstan. „Der Friedhof hat Wege.“ Er schüttelt den Kopf. „Wer trampelt denn auch über Gräber? Selbst schuld, also wirklich.“

Vikita kommt angerannt und will sogleich zur Türe hinausstürzen, als sie ihren Vater sieht. Wulfstan jedoch hält sie zurück. Erbost fragt sie ihn, was er da täte.

„Dich beschützen“, sagt er und nickt gen Friedhof, wo Herr Rosenherz noch immer schreit und mit wedelnden Armen versucht, sein Bein aus der Erde zu ziehen. „Es ist meine oberste Priorität und es sollte auch seine sein. Stattdessen läuft er dort draußen herum und veranlasst dich glatt, dasselbe zu tun.“

Vikita nickt verstehend und streicht ihren Rock glatt. Dann haut sie Wulfstan auf den Arm und ordert lautstark, er solle endlich ihrem Vater helfen. Er kommt ihrem Wunsch nach, wobei er dabei lange nicht so schnell ist, wie er sein könnte. Lieber ist er ganz aufmerksam, wohin er tritt. Noch bevor Wulfstan Amury Fairbones Grab oder Herrn Rosenherz erreichen kann, stolpert dieser nach hinten und fällt auf seinen Hosenboden. Zwar ist er frei, doch zum Schweigen verleitet ihn das nicht.

„Schhh“, macht Wulfstan, als er Herrn Rosenherz‘ Arme um seine Schultern legt und ihm aufhilft. „Sie wecken ja noch alle.“

Herr Rosenherz nimmt seine Worte nicht wahr, obwohl er endlich zu brüllen aufhört. Was ihm die Stimme raubt, ist wohl der Anblick seinen Beines, das nun nur noch in einem blutigen Stumpf endet. Die Männer hinterlassen so eine dicke rote Spur vom Friedhof zum Haus und auch drinnen auf dem Parkett, denn ebendort setzt Wulfstan Herrn Rosenherz ab. Der junge Herr kniet sich vor den Verletzten, hebt das suppende Bein, schaut akribisch und verkündet dann fachmännisch: „Das ist wohl abgebissen, ja.“

Herr Rosenherz wird kreidebleich im Gesicht – wer kann schon sagen warum? – vielleicht kann er die Umstände nicht begreifen, vielleicht strömt auch sämtliches Blut zu seinem Bein hinaus. Vikita wird derweil etwas flau, sodass sie der Szene den Rücken kehrt, während Wulfstan seinen Gürtel löst, um damit Herrn Rosenherz‘ Bein abzuschnüren. Dabei sagt er: „Ich habe noch eine Salbe mit Silber und Rosmarin und anderen hilfreichen Dingen. Die sollten Sie auf Ihre Wunde tun.“

„Wunde?“, echot Herr Rosenherz erregt. „Mir fehlt der ganze Fuß! Wie soll da eine Salbe helfen?“ Seine Atmung geht schnell und rasselnd. Schweiß steht ihm auf der Stirn.

Wulfstan neigt den Kopf. „Nun beruhigen Sie sich erst einmal. Sonst pumpt Ihr Herz Ihnen das Blut schneller aus dem Körper, als dass Sie medizinisch versorgt werden können. Es sei denn, genau das beabsichtigen Sie.“

Vikita haut ihn zum zweiten Mal an diesem Tag.

25. Oktober

Ungeduldig schreitet Wulfstan den untersten Treppenabsatz auf und ab, danach im Kreis und wieder zurück. Den ganzen Tag lang hat er durch die Gegend telefoniert – der Telefonapparat ist die neuste Anschaffung des Anwesens –, um Frau Rosenherz eine schnelle aber angemessene Bestattung zu bescheren. Ihm ist die Erschöpfung ins Gesicht gemeißelt. Sein Leben lang hat er vermieden, mit so vielen Leuten hintereinanderweg sprechen zu müssen. Er würde sich wohl jetzt gern in seinem Lesesessel verkriechen, sich nur noch mit fiktiven Personen befassen, doch er wartet auf Vikita. Sie pflegt ihren Vater und dabei will er nicht stören. Deshalb läuft er gerade ein Loch in den Treppenabsatz.

Er läuft und läuft, bleibt stehen, schaut auf die Uhr und läuft weiter, bis Vikita auftaucht und sich erkundigt, was er da täte. Wulfstan geht nicht auf sie ein, fragt stattdessen nach dem Befinden ihres Vaters.

„Ein leichtes Fieber hat er“, sagt Vikita. „Aber das wird wieder.“

Wulfstan schüttelt den Kopf. „Gar nicht gut ist das. Isst er? Trinkt er? Ist er lichtempfindlich?“ Ohne eine anständige Antwort abzuwarten, stiefelt er an Vikita vorbei in das obere Geschoss und winkt ihr, ihm in die Bibliothek zu folgen. Dort kriecht er in den hintersten, dunkelsten Winkel, bückt sich nach der niedrigsten Ecke des verstaubtesten Regals und holt hinter den fleckigen Büchern einen dünnen Band hervor, der so alt ist, dass selbst ich seine Existenz vergessen habe. „Dieses Büchlein“, erklärt Wulfstan und richtet sich wieder auf, „handelt von Gestalten, die meinen Verwandten gar nicht so unähnlich sind. Es ist eine wissenschaftliche Abhandlung. Zumindest so wissenschaftlich wie es geht, betrachtet man die Zeit, in der es geschrieben wurde.“ Er drückt Vikita das Buch in die Hand. „Wir müssen deinen Vater und seine Wunde die nächsten Tage genau im Auge behalten und sichergehen, dass er sich nicht bei meinem Familienfluch angesteckt hat.“

Vikita erblasst. Sie hat wohl nicht gedacht, dass ein Fluch – welcher Art auch immer – sich wie eine Krankheit – am Ende gar wie ein Lauffeuer – verhalten könnte. Sie presst das Büchlein gegen ihre Brust und nickt eifrig.

26. Oktober

Es ist erstaunlich, wie viel Mühe sich Menschen doch mit Bestattungszeremonien geben, mit all den kleinen Riten und Traditionen; wie sie sich so viel Mühe geben ihren Liebsten – oder vorgeblich Liebsten – einen angemessenen Abschied zu bescheren, obwohl sich kaum jemand der Beteiligten hinterher noch daran erinnern wird, denn was in ihren Gedächtnissen bleibt, sind lediglich Details – wenn man den Plural hier überhaupt verwenden kann. Und kein Mensch erinnert sich an dasselbe Detail. So hat man, früge man die Gäste einer solchen Beerdigung, viele kleine Puzzleteile, die sich nie ganz zu einem Gesamtbild zusammensetzen wollen.

Bereits Stunden nach Frau Rosenherz‘ Beisetzung im Heimatort Vikitas erinnert sich ebendiese nur noch an den Geruch in der kleinen Kirche – nach kalter Erde und nassem Holz. Herr Rosenherz erinnert sich an die Schmerzen in seinem Bein, die er auf der harten Holzbank sitzend und draußen in der Kälte auf einen Stock gestützt stehend hatte ewig lang ertragen müssen. Wulfstan erinnert sich an an die monotone Stimme des Pfarrers, aber nicht an seine Rede, die Frau Rosenherz‘ Leben in höchsten Tönen gelobt hat. Beth erinnert sich daran, wie einer der Sargträger niesen musste und der Sarg beinah ins offene Grab gestürzt wäre. Selbst der Pfarrer erinnert sich nur an die abstruse Kleidung einer älteren Dame in der zweiten Reihe.

Niemand erinnert sich an die Totenblumen; niemand erinnert sich an den Sand, den er auf den Sarg geworfen hat; niemand erinnert sich an den Leichenschmaus. Und niemand will sich erinnern. Fast niemand.

Wulfstan ist der einzige, der sich zu entsinnen versucht. Er lehnt an einer Wand, abseits der Gäste, die schon vor geraumer Zeit vom Essen zum Trinken übergegangen sind und lachend Geschichten über Frau Rosenherz austauschen, die noch nie zuvor irgendwer gehört hat. Er versucht sich zu erinnern, indem er rückwärts durch sein Gedächtnis geht: Da ist das Anstoßen beim Leichenmahl; da ist das beklommene Wandern zum Anwesen der Rosenherzes; da sind die ganzen kleinen Riten, die zur Trauerbewältigung und nicht zum Erinnern existieren; da ist die Fahrt in den Ort, die Wulfstan neben Frau Rosenherz‘ Sarg auf dem Leichenkarren verbracht hat, damit Beth, Vikita, Herr Rosenherz und meine Wenigkeit ohne Enge im Automobil reisen konnten; da ist das Zurechtmachen von Frau Rosenherz für ihre letzte Reise, was Wulfstan selbst übernommen hat, weil er darin nicht ganz unerfahren ist; da ist der kurze aber liebevolle – so weit es der Anstand noch erlaubt – Abschied, als Wulfstan Frau Rosenherz‘ Zimmer im Fairbone-Anwesen verlässt, um Vikita die Totenwache zu überlassen.

Wulfstan Augen sausen durch die trinkende Menge, bis sie auf Vikita landen. Hastig schiebt er sich durch die Anwesenden. Als er neben ihr ankommt und in ihr Ohr raunen kann, ist sein Tonfall drängend: „Hast du daran gedacht, das Fenster zu öffnen? Während du Totenwache gehalten hast. War da das Fenster offen?“

Vikita legt die Stirn in Falten. Angestrengt denkt sie nach. Doch natürlich kann sie sich nicht klar erinnern. „Vielleicht“, sagt sie. „Nein, ich glaube nicht. Es hat geregnet und irgendwann ist der Wind wieder aufgefrischt. Aber sicher weiß ich es nicht.“

„Oh je“, seufzt Wulfstan. Er will nicht weitersprechen, doch er bemerkt Vikitas warnenden Blick, ja keine Geheimnisse vor ihr zu haben. Also sagt er: „Hoffentlich haben wir jetzt keinen weiteren Geist im Haus.“

Vikita stutzt. „Einen weiteren?“, fragt sie halb entsetzt, halb anklagend.

27. Oktober

Das Fräulein, der junge Herr und Beth treffen an diesem Tag ohne Herrn Rosenherz auf dem Anwesen der Fairbones ein. Dank seiner unfreiwilligen Amputation hatte er keine andere Wahl, als vorerst Zuhaus zu bleiben. Er wird später mit Vikitas übrigen Verwandten nachkommen. Sodenn sein Arzt ihn lässt.

Wulfstan scheint sehr erleichtert über Herrn Rosenherz‘ Abwesenheit, obwohl er sich weiterhin sichtlich Sorgen um dessen Zukunft macht. Es sollen nicht seine einzigen Sorgen bleiben. Als er nach Frau Esner ruft, wartet er vergeblich auf eine Antwort. Stille wabert durch das Haus. Er wirft einen Blick auf die Standuhr im Foyer und stellt fest: „Sie hätte doch schon hier sein sollen.“

Dann zuckt er mit den Schultern, krempelt die Hemdärmel hoch und wendet sich an Beth. „Wir werden uns wohl um das Abendessen kümmern.“

Beth folgt ihm in die Küche. Beide legen die Stirn in Falten, als sie dort halb geschälte Kartoffeln auf dem Tresen vorfinden. „Merkwürdig“, kommentiert Wulfstan. Mit einem schnellen Blick erfasst er die restlichen Zutaten, die Frau Esner schon bereitgestellt hatte. Zwiebeln fehlen, bemerkt er. Beth will sogleich in die Speisekammer eilen, doch Wulfstan hält sie auf. Ihm ist nicht ganz wohl dabei und so geht er selbst.

Die Kammer ist kühl und liegt im Halbdunkeln. Das Licht flackert. Bevor Wulfstan eine Chance hat, die Zwiebeln zu finden, findet er Frau Esner. Ihre Haut ist bleich, das Haar schlohweiß, der Mund ist in einem stummen Schrei eingefroren; ihre Augen sind weit aufgerissen. Wulfstan lässt sich neben ihr auf die Knie fallen und beginnt mit einer Atemspende. Die Sekunden verstreichen fruchtlos.

Als Beth nach dem jungen Herrn ruft, muss er einsehen, dass Frau Esner fort ist. Sein Blick wandert an ihr herunter. Ihre Finger sind verkrampft. Kleine Kratzspuren sind in den Holzboden gebannt. „Oh je“, seufzt Wulfstan. Für diesen Schlamassel gibt er ganz allein Frau Rosenherz die Schuld.

28. Oktober

Wulfstan blickt auf die Uhr – leicht bekümmert – und dreht seine Manschettenknöpfe, bevor er Vikita hilft, ihre Halskette anzulegen. „Ich verstehe immer noch nicht“, sagt er dabei, „weshalb wir nicht auf einen – wie hast du es genannt? – verzichten können.“

„Es heißt Polterabend und ich kann nicht glauben, dass du diese Tradition nicht kennst“, antwortet das Fräulein und rückt Wulfstans Krawatte zurecht. Er sieht hinunter, nestelt erneut an seinen Manschetten und nuschelt: „Ich sehe den Sinn dahinter einfach nicht, altes Porzellan zu zerstören.“

Vikita setzt eine ernste Miene auf. „Es dient dazu, böse Geister fernzuhalten“, sagt sie streng. „Davon haben wir ja wohl genug.“

Grummelnd stimmt Wulfstan zu. Er würde vermutlich vieles tun – einschließlich mit Vikitas Verwandten lautstark Tassen zu zerdeppern –, um nicht den Rest seines kurzen Lebens von einer exzentrischen, toten Schwiegermutter heimgesucht zu werden. Abermals sieht er auf die Uhr, deren Zeiger sich nun wild im Kreis drehen – mal in die eine, mal in die andere Richtung. „Wir müssen sie mit einem Tuch verhängen“, beschließt er, „bevor deine -“

Das Türläuten unterbricht ihn. Mit erhobener Stimme bittet er Beth, die Gäste hereinzulassen, während er und Vikita die durchdrehende Uhr verstecken.

Beth eilt zur Tür, öffnet mit einer höflichen Begrüßung und knickst obendrein, als die Onkel und Tanten und Cousinen der Familie Rosenherz das Haus betreten. Es sind weniger Personen, als sie sich anhören mögen. Ein paar Verwandte, darunter die Großeltern des Fräuleins lassen sich entschuldigen. Vermutlich gab es ihnen im letzten Monat zu viele Leichen auf dem Anwesen. Dabei werden Vikita und der junge Herr beharrlich über Frau Esner schweigen.

Aber zurück zu Beth, welcher der Schrecken ins Gesicht gemalt ist, obwohl sie sich anstrengt, ihn zu verbergen. Sie knickst und beugt den Kopf tief, damit der letzte Gast, der hereingekommen ist, nicht in ihrer Miene lesen kann. Herr Rosenherz‘ blutunterlaufene Augen schweifen unstetig durch die Halle; sein Lächeln mutet geradezu gefräßig an. Der Gehstock poltert mit jedem Schritt laut. Beth schreckt zurück, als Herr Rosenherz sie anspricht. Sie hört gar nicht auf seine Worte, dafür fürchtet sie seine Anwesenheit auf einmal zu sehr. Stumm hofft sie, Polterabende vertrieben wahrlich jedweden bös gesinnten Geist.

29. Oktober

Es ist weder die bestbesuchte noch die romantischste Hochzeit, die die Kapelle der Fairbones je gesehen hat, doch für Vikita Rosenherz und Wulfstan Emanuel Vivelin Fairbone ist sie so perfekt, wie sie in diesen grauen Tagen nur hätte sein können. Der Himmel ist trüb. Die rechte Seite der Kapelle ist komplett leer; nur ich habe mir erlaubt, dort Platz zu nehmen. Im Mittelgang liegen weiße Rosenblätter verstreut. Vor dem nie benutzten Altar steht Pfarrer Pfaff neben Wulfstan, der – wie tags zuvor – an seinen Manschettenknöpfen nestelt. Er hört erst damit auf, als der Gehstock von Herrn Rosenherz auf den steinernen Boden knallt. Alle Augen richten sich auf Vikita, die in ihrem spitzenverzierten, schwarzen Kleid am Arm ihres Vaters langsam auf Wulfstan zuschreitet. Auf ihrem Gesicht liegt ein Strahlen, das jeden Schrecken der letzten Wochen in Vergessenheit geraten lässt.

Sobald sie vorn ankommt, räuspert Pfaff sich und beginnt mit seiner wohldurchdachten Rede über Liebe, Ehe und Gott. Sogar ein Gedicht trägt er vor. Es ist eine lange Rede, von der man sich nur wenig mehr merken wird als von Frau Rosenherz‘ Grabrede. Dafür ist sie allemal schöner – die Gelübde ebenso. Im Gegensatz zu Pfaff halten Wulfstan und Vikita sich kurz. Ein lieblicher Treueschwur, ein Ringtausch ohne Umschweife … und der junge Herr – nun Wulfstan Emanuel Vivelin Rosenherz – darf seine Liebste küssen, ganz ohne unschicklich anzumuten. Herrn Rosenherz scheint das – seinem verspannten Kiefer nach zu urteilen – gar nicht zu behagen. Aber wie auch immer er sich letztendlich fühlt, er muss zusehen, wie seine glückliche Tochter unter unzähligen Beglückwünschungen von Wulfstan aus der Kapelle hinaus, am Rande des Gartens entlang und ins Haus geleitet wird.

Dort steht das Festmahl bereit, das der junge Herr und Beth nach Frau Esners Rezepten zubereitet haben. Den Gästen schmeckt es gut genug. Nur Herr Rosenherz isst nichts, obwohl sein Magen ungeduldig knurrt.

Er wartet. Er weiß wohl selbst nicht worauf, aber er wartet.

Ich kann den Hunger in seinen Augen sehen.

30. Oktober

Der Mond steht noch am Himmel, als Wulfstan aufwacht. Dennoch verspürt er keinen Drang, wieder einzuschlafen. Er bewundert das silberne Mondlicht, das zärtlich über Vikitas Züge tanzt. Eine Sorglosigkeit liegt auf seinem eigenen Gesicht, wie sie seit seinen Kindertagen nicht mehr zu sehen war. Vorsichtig streicht er seiner Frau eine Haarsträhne aus der Stirn.

In diesem Augenblick weht ein Stöhnen durch die geschlossene Schlafzimmertür. Wulfstan horcht auf. Leise stiehlt er sich aus dem warmen Bett, und hinaus auf den kalten Flur. Allerdings nicht unbemerkt. Vikita wirft sich einen Morgenmantel über und schleicht hinter ihm her.

Ein Klirren erklingt – eine Vase ist wohl zerscheppert –, gefolgt von einem Kratzen und einem neuerlichen Stöhnen. Gemeinsam folgen Wulfstan und Vikita den Geräuschen um zwei Ecken, wo sie im Dunkeln zwei ineinander verkeilte Schemen ausmachen können. Einer von ihnen ist unweigerlich Herr Rosenherz. Sofort stürzt sich Wulfstan auf ihn und wirft ihn – dank fehlenden Fußes – mit Leichtigkeit zu Boden. Mit gebleckten Reißzähnen versucht Herr Rosenherz nach dem jungen Herrn zu schnappen. Wulfstan hält ihn unter Anstrengung mit einem Arm von sich. Mit der freien Hand tastet er nach der zerstörten Vase und rammt eine Scherbe, sobald er sie zu fassen bekommt, in Herrn Rosenherz‘ Auge. Dann bringt Wulfstan hastig Abstand zwischen sich und die wütenden scharfen Zähne. Dabei macht er unfreiwillig für Vikita Platz, die ein Bein von dem alten Beistelltischchen, auf dem die Vase gestanden hatte, gebrochen hat und es ihrem Vater mit aller Gewalt, die sie aufbringen kann, durch die zu ruhige Brust treibt. Wild schlägt Herr Rosenherz um sich. Wulfstan schubst Vikita von ihm weg, bevor sie getroffen werden kann. Er reißt Herrn Rosenherz das Tischbeinchen aus dem Leib und stößt erneut zu – direkt durch das eh reglose Herz.

Herrn Rosenherz‘ Gegenwehr kommt stotternd zum Stillstand. Vikita sackt in sich zusammen. Ihr Atem geht schwer. Wulfstan hingegen beugt sich in der Dunkelheit über die zweite Gestalt, die stumm auf dem Läufer liegt. Er presst beide Hände auf die Bisswunde am Hals von Beth, doch sie ist zu groß. Das erkaltende Blut sickert ihm durch die Finger.

Vikita räuspert sich und raunt: „Was machen wir nun mit ihm?“

Wulfstan braucht einen Moment, um zu antworten: „Er wird wohl der erste Außenstehende, der ein Grab auf dem Fairbone-Friedhof bekommt.“ Er hört, wie Vikita sich aufrappelt. Gleich darauf spürt er ihre Hände auf seinen Schultern und lässt von Beth ab.

„Wir müssen ihm den Kopf abschlagen und diesen zwischen seinen Beinen vergraben.“

„Wie bitte?“, fragt Wulfstan verdutzt.

„Das steht in dem Büchlein, das du mir gegeben hast.“

Abwesend nickt Wulfstan. Es wird wohl so sein. Dann richtet auch er sich wieder auf und beschließt: „Erst müssen wir diese beiden hier verschwinden lassen. Danach müssen wir den Rest deiner Verwandtschaft loswerden.“

„Du meinst“, versichert Vikita sich, „wir müssen sie gleich nach dem Frühstück heimschicken?“

„Genau so“, bestätigt Wulfstan und tastet nach ihrer Hand.

„So habe ich mir unsere Hochzeitsnacht nicht vorgestellt.“

Erstaunt hebt er die Augenbrauen. „Wirklich nicht? Nach allem, was du hier schon erlebt hast?“

31. Oktober

Wulfstan ist sichtlich beeindruckt von Vikita, mehr noch als sonst. Er ist beeindruckt, wie sie ihre Verwandten nach und nach unter umständlichsten Höflichkeiten aus dem Haus wirft; wie sie Herrn Rosenherz und Beth ohne große Zeremonien im Garten verscharrt – und zwar so, dass sie möglichst nicht wieder wie Großonkel Amury oder Tante Coletta auftauchen. Sie trägt währenddessen lederne Handschuhe, kniehohe Stiefel und lange Kleider – von Wulfstan hat sie sich für die schmutzige Arbeit sogar ein Paar Hosen geliehen.

Er ist auch beeindruckt, wie sie – Wulfstans uraltes Büchlein als Anleitung nutzend – Salz auf jedes Fensterbrett und jede Türschwelle streut; wie sie eiserne Messer in die oberen Rahmungen rammt und Rosmarin dort anhängt. Als sie Holzscheite und die Überreste des Beistelltischchens spitz zuschnitzt, hilft er ihr. „Wie viele Wiedergänger erwartest du heut Nacht?“ , erkundigt er sich dabei, leicht amüsiert.

„Du hörst dich immer an“, antwortet Vikita, „als würde der ganze Friedhof dort draußen aufwachen. Und dessen Größe ist ja wohl ganz schön stattlich.“

Wulfstan legt Schnitzmesser und Pflock beiseite und betrachtet sie lange. Irgendwann fragt er: „Hast du Angst?“

Vikita verneint.

„Auch nicht nach der vorletzten Nacht?“

„Ganz besonders nicht nach der vorletzten Nacht.“ Sie richtet ihre liebevollen Augen auf Wulfstan. „Jetzt weiß ich doch erst, dass ich sie überleben kann, die Untoten.“

Und Wulfstan ist beeindruckt.

Als die Nacht hereinbricht, das letzte Sonnenlicht verschwunden und die Mondsichel am Himmelszelt angebracht ist, da entzünden Vikita und Wulfstan dutzende Kerzenleuchter, um nicht in der Finsternis zu ertrinken. Dann setzen sie sich gemeinsam auf ihr Bett und Wulfstan legt seine Arme schützend um Vikita.

Sie müssen nicht lange warten, bis von draußen aus der düsteren Nacht Rascheln und Keuchen und Schmatzen zu vernehmen ist. „Keine Angst“, raunt Wulfstan. „Ins Gebäude herein können sie nicht.“

„Mein Vater war drinnen, gleich auf dem Korridor vor unserer Tür“, erwidert Vikita. „Deshalb ja das Salz und der Rosmarin und die Messer.“

„Er war schon vorher drinnen“, meint Wulfstan, während sich die duckenden Geräusche vor den Fenstern wie ein Puzzlespiel zu einer regelrechten Kakophonie zusammensetzen. „Er ist hier drin gestorben. Aber wer erst einmal draußen unter der Erde war, der kann nicht mehr zurück.“

Vikita legt den Kopf auf seine Schulter und will wissen, wie das kommt.

„Irgendein Zauber muss es sein“, winkt Wulfstan ab. „Es steht in den Chroniken, aber in denen habe ich zuletzt vor langer Zeit gelesen.“

Ein Scharren und Kratzen ertönt – von tief unten. „Und du bist dir ganz sicher?“, hakt Vikita nach.

„Ja, ganz -“ Als Wulfstan stockt, wird ihr doch etwas bange. Auf Nachfragen, erzählt er ihr, er hätte sich soeben lediglich an einen alten geheimen Tunnel erinnert, der aus dem Anwesen hinausführt und den seit Generationen kein Fairbone mehr benutzt hätte – weder tot noch lebendig.

„Und ich habe kein Salz am Eingang verstreut!“, ruft Vikita entrüstet. Wulfstan zieht sie nach enger an sich heran und wiederholt: „Ins Gebäude herein können sie nicht.“

Doch Vikita fleht ihn an, mit ihr nachzusehen, vorsichtshalber doch Salz zu streuen, den Eingang vielleicht gar zu verbarrikadieren. Ein geheimer Tunnel macht jagt ihr mehr Schrecken ein als eine Horde Untoter. Auf einen Tunnel hat sie sich schließlich nicht vorbereitet. Wulfstan tut ihr den Gefallen und steht auf. Vom Nachttisch nimmt er einen Kerzenleuchter und gemeinsam gehen sie hinunter ins Erdgeschoss, an der Küche vorbei, in einen verlassenen Raum, in dem nur noch ein leeres, eingestaubtes Regal steht. Er drückt Vikita den Leuchter in die Hand und geht zu dem traurigen Möbelstück hinüber. Mit dem Rücken lehnt er sich gegen eine Seitenwand und stemmt sich dagegen. Knarzend und ächzend lässt sich das Regal über den Boden schieben und gibt Stück für Stück ein schwarzes Loch in der Wand preis. Sobald der Eingang zum Tunnel frei liegt, will Vikita ihr Salz verteilen. Aber Wulfstan hält sie zurück. Er starrt in die Dunkelheit und lauscht, denn obwohl das Regal nun stillsteht, haben die kratzenden Geräusche nie aufgehört.

„Geh hinter mich!“, ordert Wulfstan plötzlich und rutscht von dem Loch in der Wand fort. Aus Vikitas Gürtel greift er einen der geschnitzten Pflöcke. Gerade rechtzeitig, denn da stürzt ihm ein untoter Fairbone entgegen, so alt und vergessen, dass Wulfstan nicht einmal seinen Namen weiß.

„Das Salz!“, ruft der junge Herr, während er mit dem Pflock nach seinem Verwandten stößt. Leider schrammt die Holzspitze nur über dessen Schulter.

Vikita stiehlt sich an den beiden Kämpfenden vorbei und schüttet fast alles Salz aus dem übriggebliebenen Topf in den Tunneleingang. Eine unterarmdicke weiße Linie zieht sie so, damit ja nicht noch mehr Fairbones hereinkommen können.

Derweil wälzen Wulfstan und der zuschnappende Herr über den Boden. Mit seinen Fingernägel, so lang und dick wie Klauen, schlägt der Untote nach Wulfstans Brust. Mehr kann Vikita im Halbdunkeln nicht erkennen. Die Kerzen scheinen mehr Schatten als Licht zu werfen. Sie stößt die Flammen ins Gesicht des Wiedergängers. Der Untote jault und schreit und gibt Wulfstan genug Zeit, ihm den Pflock durch die Rippen direkt ins Herz zu jagen.

Sogleich packt Vikita Wulfstans Hand, zieht ihn auf die Beine und läuft mit ihm los. Sie läuft an der Küche vorbei, den Korridor entlang, durch die Eingangshalle, die Treppen hinauf und zurück ins Schlafzimmer. Dort knallt sie hinter ihnen die Türe ins Schloss und kippt die letzten Salzkörner vor den Türspalt.

Dann wirft sie ihre Arme um Wulfstan. „Wir überleben“, ruft sie erleichtert. „Du und ich, wir überleben diese verfluchte Nacht.“

Wulfstan jedoch lächelt nur traurig und tritt einen Schritt zurück. „Du überlebst diese verfluchte Nacht“, sagt er sanft. „Denn ich fürchte, ich bin schon tot.“

Ungläubig schüttelt Vikita den Kopf, aber im Licht der vielen Kerzen kann sie das klaffende Loch im Torso ihres Liebsten erkennen. „Das darf nicht sein!“, ruft sie. „Ich liebe dich doch.“

Wulfstan nimmt ihre Hand und legt sie über sein bereits stillstehenden Herz, während sie Nein, nein, nein, das kann nicht sein schluchzt. Es dauert lange, bis sie sich beruhigen kann und ihr Flehen zu einem sanften Weinen abklingt.

Wulfstan legt sich auf das Bett und zieht Vikita mit sich. Er hält sie in den Armen, streichelt ihr übers Haar und flüstert ihr Geschichten zu. Bis zum Morgen, bis die Sonne aufgeht, bis die Fairbones sich wieder in ihre Gräber verziehen.

Bis der Rest von Wulfstans Körper genauso stumm daliegt wie sein Herz und Vikita sich voller Leider an ihn klammert und ihn zu wärmen versucht.

Sieht meine Aufgabe als Chronist der Fairbones hier nach Jahrhunderten ihrem Ende entgegen? Ist der Flucht vielleicht gar verwirkt? Nein, noch ist dem nicht so. Denn Vikita Rosenherz trägt ein neues Leben unter dem eigenen Herzen und leider, leider wird sie wohl darauf bestehen, ihm den Namen Emanuel Fairbone zu geben. So werde ich Familie und Fluch wohl noch einige Zeit begleiten. Und vielleicht – so unwahrscheinlich ist es gar nicht – wird auch Wulfstan Emanuel Vivelin Rosenherz wieder auftauchen.