Bis Weihnachten gibt es hier jeden Tag ein neues Stückchen einer Geschichte zu lesen, an den Adventstagen gibt es eine kleine Illustration.
Das Folgende ist eine leicht überarbeitete Version einer Geschichte aus dem Jahr 2020, die unter der Vorgabe von fünf Wörtern entstanden ist …
… Wahlrechtsreform, Nutella, Sturmgewehr, Kühlakku, Teddybär
Neugierig?
Teddybär mit Sturmgewehr
Matthias Schmittke saß wie jeden Morgen mit einer dampfenden Tasse Kaffee am Küchentisch. Wie jeden Morgen trug er ein blütenweißes Hemd und einen dunkelblauen Anzug; der schwarze Pilotenkoffer mit seinen Arbeitsunterlagen stand neben dem Stuhl. Er schob die Lesebrille zurecht und blätterte gelangweilt in der Tageszeitung.
Wie jeden Morgen.
Ein schrilles Kreischen ertönte aus dem oberen Stockwerk und ein lautes Gepolter auf der Treppe verriet ihm, dass seine siebenjährige Tochter im Anmarsch war.
„Heute ist Weihnachten!“, quiekte sie aufgeregt, als sie auf Matthias zustürmte und ihm einen Kuss auf die Wange drückte.
„Guten Morgen, Lisa“, antwortete er abwesend und vertiefte sich in den politischen Teil seiner Presse. Er interessierte sich nicht für Politik. Aber ein bisschen informieren musste man sich ja. Es gab einen großen Artikel über die Wahlrechtsreform, die nach den Feiertagen angestrebt werden sollte. Matthias überflog den Beitrag lediglich.
Seine Frau Melanie betrat mit einem Wäschekorb voller Bastelsachen den Raum. „Mäuschen, heute ist erst Heiligabend“, erklärte sie. „Morgen ist Weihnachten.“ Sie hievte den Wäschekorb auf das andere Ende des Küchentisches und gab Matthias ebenfalls einen Kuss auf die Wange.
„Morgen, Schatz“, murmelte er, warf einen zweifelnden Blick auf ihren bunten Strickpulli mit Weihnachtsmotiv und verschwand dann wieder hinter der Zeitung. Neben dem Wahlrechtsartikel war ein großes Bild des Politikers, der die Reformidee eingebracht hatte und maßgeblich vorantrieb: Dr. Friedhelm Leitze.
Der Doktortitel war wahrscheinlich gekauft. Das war er ja immer. Wie ein großer Reformer sah Leitze nicht aus, fand Matthias. Klein, untersetzt, lichtes Haar, Nickelbrille und altmodisches, kariertes Sakko … Letztes Jahr war sein Foto nur neben Skandalberichten abgedruckt gewesen. Jetzt liebten ihn alle.
Matthias sah von der Zeitung auf. Lisa saß neben ihm und hatte versucht, sich Nutella auf ihre Stulle zu schmieren. Wirklich getroffen hatte sie alles andere. Seufzend legte Matthias die Tageszeitung beiseite und stand vom Tisch auf, während Melanie herangetippelt kam und dem Kind mit einem feuchten Tuch im Gesicht herumwischte. Kurz überlegte Matthias, ob er das Ganze mit seinem Handy filmen sollte. In acht Jahren könnte er das Video Lisas Freunden zeigen. Den Titel der peinlichsten Eltern wäre Melanie und ihm damit sicher. Aber lieber doch keine Beweise … Vielleicht suchte Lisa später mal sein Pflegeheim aus. Da würde er eh viel zu früh landen.
Er schnappte sich seinen Pilotenkoffer und stiefelte damit in den Flur. Melanie lief ihm hinterher und lehnte sich gegen die alte Kommode, die dort thronte. „Schade, dass du heute arbeiten musst, Liebling.“
Matthias küsste sie auf die Stirn und lächelte entschuldigend. „Ging nicht anders, aber spätestens zum Abendessen bin ich ja wieder da.“ Er zog sich Schuhe und Mantel an und dann verschwand winkend nach draußen. In der Garage wartete der ausgediente Seat Cordoba. Der Pilotenkoffer landete auf der Rückbank. Kurz darauf verließ Matthias das Grundstück, endlich auf dem Weg zur Arbeit.

Nach nur zwanzig Minuten – er hatte gelernt, sich auch durch den dicksten Verkehr zügig zu manövrieren – fuhr Matthias Schmittke in die Tiefgarage seiner Agentur. Für einen Augenblick musste er an seine Tage im Ausbildungscamp zurückdenken. Damals hatte er über die Feiertage grundsätzlich arbeiten müssen.
Kopfschüttelnd parkte er den Seat. Was nützte jede Beförderung seit jenen frühen Tagen, wenn seine Tochter die Zimtsterne dennoch allein backen musste?
Ein Seufzen rollte Matthias über die Lippen, als er ausstieg, sich seinen Koffer schnappte und mit dem Fahrstuhl ins Foyer fuhr. Weiter kam man von der Tiefgarage aus nicht. Aus Sicherheitsgründen.
Von der Rezeption her winkte Matthias die blonde Sabrina. Sie kannte jeden der Angestellten. Wollte man an Firmeninterna, bräuchte man wahrscheinlich nur sie zu entführen. Das Sicherheitssystem hinkte. Aber Matthias fand in jedem Sicherheitssystem Lücken. Er durchquerte die Eingangshalle und verschwand im eigentlichen Bürokomplex.
Sabrina war die erste Hürde, der Bürozugang die zweite. Hier brauchte man eine elektronische Codekarte und einen Augenscan. Wollte man hier eindringen, bräuchte man lediglich die Karte eines beliebigen Angestellten zu stehlen und ihm ein Auge auszustechen. Matthias bezweifelte nicht, dass eben dies irgendwann geschehen würde. Das Sicherheitssystem stolperte. Durchgehend. Doch menschliches Versagen konnte man leider nicht umgehen.
Was hieß leider? Matthias zuckte mit einer Schulter. Menschliches Versagen machte seinen eigenen Job schließlich leichter.
Mit dem nächsten Fahrstuhl fuhr er in die dritte Etage. Dort befand sich am Ende des langen, grün gestrichenen Ganges sein Büro. Auf dem Flur lief ihm niemand über den Weg; der Aufenthaltsraum war verlassen. Sabrina und er schienen die Einzigen zu sein, die heute arbeiten mussten. Sollte alles am Schnürchen, konnte er vielleicht schon am frühen Nachmittag Zuhause sein. Hoffnung. Ja, er musste sich nur genug Hoffnung machen.
Pfeifend schloss Matthias sein Büro auf. Es war geräumig und hell, sofern die schwarzen Rollos nicht herabgelassen wurden. Unter dem Fenster stand ein großer Schreibtisch, daneben ein durch Fingerscan verschlossener Aktenschrank. Links gab es einen großen Kleiderschrank mit Spiegeltür und einen Stahlschrank mit Sicherheitsschloss, rechts eine graue Bettcouch. Neben der Tür hing ein kleines Waschbecken. Ein Büro wie jedes andere in der Agentur, mit Ausnahme der Bettcouch. Diesen Luxus hatte Matthias sich nach zu vielen Überstunden geleistet.
Er knipste das Licht an, stellte den Pilotenkoffer neben den Schreibtisch und zog die Rollos herunter. Aus seiner Tasche holte er eine schmale Mappe, die er auf den Tisch warf. Vorn war mit einer Büroklammer das Foto von Dr. Friedhelm Leitze befestigt.
Den Mantel und das blaue Jackett zog Matthias aus. Beides drapierte er über dem Schreibtischstuhl. Während er sein Hemd aufknöpfte, stieß er mit einem Fuß den Kleiderschrank auf, um sich schon mal seine heutige Outfit-Auswahl anzusehen. Etwas höchst unauffälliges und alltagstaugliches musste es sein. Fast achtlos warf er das Hemd zum Jackett. Dann tauschte er seine Anzughosen gegen schwarze Cargohosen und die feinen Schuhe gegen dunkle Turnschuhe. Darüber zog er einen Bundeswehrpullover und eine Lederjacke. Beides in schwarz.
Die hellen Haare sprühte er sich dunkel. Auswaschbares Haarfärbemittel aus der Sprühdose. Toll, was es heutzutage so gab. Das Zeug beschleunigte seine Vorbereitungszeiten ungemein.
Zum Schluss schob Matthias sich eine Zigarette hinter das rechte Ohr. Er war Nichtraucher, doch für seinen heutigen Termin musste er so wenig wie möglich er selbst sein.
Seine Arbeitsmittel, die ganzen kleinen Utensilien, die er so brauchen könnte, verteilte er in den vielen Taschen seiner Kleidung. Natürlich auch den Autoschlüssel für den schicken Firmenwagen.
„Perfekt“, murmelte Matthias, während er in den Spiegel blickte und eine letzte Haarsträhne zurechtrückte. Dann schritt zum Stahlschrank und öffnete das Sicherheitsschloss. Summend zog er die Tür auf und ließ seinen Blick über das vielfältige Angebot schweifen.
Letztlich blieb nur noch eine Entscheidung: Welche Waffe?
Friedhelm Leitze fluchte leise vor sich hin. Rote Ampeln, Last-Minute-Einkäufer, Feiertagsurlauber, Weihnachtsstress-Auffahrunfälle und eine kleine Karambolage mit Schwerverletzten – kurz um: Überall verstopfte Straßen. Überall um seine Limousine herum. Er kam zu spät zu dem Termin im Einkaufszentrum. Das TV-Interview brauchte er dringend für sein Image und wenn er nicht rechtzeitig beim Juwelier das Weihnachtsgeschenk für seine Frau abholen würde, wären die nächsten Nächte für ihn weder still, noch heilig.
Aber erst kam das Interview: Die Spendensammlung für die armen Kinder abschließen, den kleineren Geschäften im Kaufhaus Unterstützung zusichern, etwas über die wunderschöne Weihnachtszeit im Kreise der Familie plaudern, nebenbei die Wahlrechtsreform ansprechen – kurzum, sich gut dastehen lassen für die nächste Wahl.
Endlich fuhr die Limousine vor den Haupteingang des Einkaufszentrums. Die Reporter warteten bereits. Von seinem Bodyguard gefolgt, stieg Friedhelm Leitze eilig aus und schritt mit übertrieben freundlicher Miene auf sie zu.
„Verzeihung, die verstopften Straßen“, sagte er zur Begrüßung und lächelte entschuldigend. „Natürlich wollen jetzt alle schnell zu ihren Liebsten. Aber meine Partei hat für das neue Jahr ja auch schon Pläne, die Verkehrssituation zu entspannen und vor allem Schulwege sicherer zu gestalten.“
Das Fernsehteam murmelte zustimmend. Friedhelm Leitze hatte selbstverständlich bemerkt, dass die Kamera längst lief. Keine Minute hier und schon eine sympathische Anspielung auf ihn als Familienmensch gemacht, Werbung für seine Partei untergejubelt und die Reporter auf seine Seite gezogen. Es würde wohl doch noch ein gelungener Tag werden.
„Es würde Ihnen doch nichts ausmachen, wenn ich schnell das Weihnachtsgeschenk für meine Frau abhole?“, erkundigte er sich und versuchte, ein charmantes Lächeln aufzusetzen.
Einer der Reporter schüttelte begeistert den Kopf und stieß seinem Kollegen mit dem Ellenbogen in die Seite. „Ey, das gibt einen super Einspieler, wenn der Zusammenschnitt vom Sender gezeigt wird.“
Doktor Friedhelm Leitze begab sich also gefolgt vom Kamerateam zum Juwelier und holte die sündhaft teuren, glitzernden Ohrhänger ab. Das war dann auch erledigt.
Als er aus dem Geschäft trat und in einen Monolog über den nächsten Tagespunkt, die Kinder-Weihnachtsspendensammlung, verfallen wollte, erblickte er einen Glückscent direkt zu seinen Füßen. Um dem Fernsehteam auf charmant-witzige Weise zu zeigen, dass in der nächsten Abstimmung das Glück mit ihm sein würde, bückte er sich danach. Hinter dem Politiker klirrte es und die Schaufensterscheibe des Juweliers rieselte in Scherben herunter.
Matthias schimpfte unter der Sturmhaube vor sich hin. Elendig lange hatte er auf Leitze warten müssen und dann, gerade als Matthias das herrlichste freie Schussfeld gehabt und abgefeuert hatte, bückte sich der Typ.
Erneut legte Matthias das kompakte Mehrzweck-Militärgewehr mit aufgesetztem Schalldämpfer an. Er hatte eine ausgezeichnete Trefferquote einzuhalten. Beim Zielen fluchte er leise. Das Fernsehteam, der Bodyguard und Dr. Leitze waren nun aufgescheucht. Der Juwelier rief wahrscheinlich gerade die Polizei. Aber Matthias war gut. Und sein Chef wusste das, sonst hätte er nicht ihm diesen Auftrag mitten im Einkaufszentrum zugeteilt. Man verließ sich darauf, dass Matthias das Zielsubjekt sauber eliminierte und niemand sonst verletzt wurde.
Leitze sah sich panisch um und lief dann den Gang hinunter, ohne auf seinen Bodyguard zu achten. Matthias seufzte. Schnell schwang er sich die große Sporttasche, in der die Waffe verstaut gewesen war, über die Schulter, packte das Sturmgewehr fester und sprintete auf der Galerie dem Politiker hinterher, der zum Glück alles andere als sportlich war.
Leitze blieb für einen Moment stehen und sah sich wohl doch noch nach seinem Bodyguard um. Matthias nutzte das Zeitfenster, ließ sich auf den Boden fallen, um hinter dem weihnachtlich geschmückten Geländer zu verschwinden, und riss das Gewehr nach oben. An den Streben vorbei zielte er auf Leitze. Doch schon schob sich der bullige Bodyguard vor den Politiker und zog ihn auf die andere Seite des Ganges. Direkt unter die Galerie, auf der Matthias lag. Dieser wollte sofort aufspringen, damit er sein Ziel nicht aus den Augen verlor. Ein Ratschen ertönte und sein Kopf ruckte wieder nach unten. Die Sturmhaube war an der Weihnachtsdekoration hängen geblieben. Die Naht an der Seite träufelte auf. Keine Qualität mehr heutzutage. Er würde sich bei dem Berufskleidungsausstatter seiner Agentur beschweren.
Fluchend riss Matthias sich los. Mit der linken Hand die kaputte Sturmhaube und mit der rechten das Sturmgewehr festhaltend, stürmte er durch die offene Tür des nächsten Ladens. Die Wahrung seiner Identität und der Firma waren jetzt wichtiger, als Friedhelm Leitze. Schnaufend fand er sich in einem Spielzeuggeschäft wieder. Der jungen Kassiererin warf er einen grimmigen Blick zu. Sie stürzte sich freiwillig hinter den Tresen und gab keinen Mucks mehr von sich.
Zügig begab Matthias sich in die erste Regalreihe und vergewisserte sich, dass keine Überwachungskameras angebracht waren. Vorsichtshalber hielt er den Kopf trotzdem gesenkt und zur Wand gerichtet. Vor ihm türmten sich Stofftiere in allen Formen und Farben auf. Er kniete sich neben einen riesigen Teddybären, legte das Gewehr neben sich und zog ein Einhandmesser aus seiner Tasche. Geschwind trennte er einem der Bären den flauschigen Kopf von den Schultern und stach ihm die Knopfaugen aus. Die Füllmasse riss Matthias heraus. Danach tauschte er die beschädigte Sturmhaube gegen den Bärenkopf. Improvisierte Maske, aber was auch immer. Es funktionierte. Hoffentlich schlich das Fernsehteam nicht mehr herum, sonst würde er garantiert in den Acht-Uhr-Nachrichten zu sehen sein.
Die Reste des Teddybären stopfte er in die Sporttasche. Der Kassiererin schleuderte er mit behandschuhten Händen einen zerknitterten Fünfzig-Euro-Schein aus seiner Einsatzgeldbörse zu. Immerhin war Matthias ein Auftragskiller, kein Dieb.
Nach nicht mal einer Minute stand er wieder außerhalb des Ladens. Er schaute sich um und sah am Ende des Flures Friedhelm Leitze um die Eck biegen. Schlechte Wahl. Matthias wusste, wo der Flüchtige herauskommen würde. Er könnte ihn leicht abfangen. Den Grundriss des Einkaufshauses hatte er im Kopf. Melanie hatte ihn allzu oft auf Shoppingtrips geschleppt.
Matthias sprintete durch einen kleineren Quergang und kam tatsächlich gleichzeitig mit Friedhelm Leitze in einer großen, offenen Halle an. Der Politiker stand aufgebracht gestikulierend unten im Gastronomiebereich, Matthias oben auf dem Rundgang. Keine Wände, keine Aufsteller, keine Menschen im offenen Areal. Die wenigen, die sich hier befanden, drängten sich sorgenvoll in die halboffenen Verkaufsflächen. Jetzt kam auch der Bodyguard heran gejoggt und versuchte, den panischen Leitze zu stoppen. Der Politiker machte seinen Job nicht gerade leicht.
Matthias hatte wenig Zeit. Das war vermutlich seine letzte Chance, den Auftrag glimpflich über die Bühne zu bringen. Die Sporttasche legte er vorerst ab.
Gekonnt kletterte er über das Geländer des Rundganges. Über dem Gastronomiebereich hingen enorme Weihnachtskugeln, Sterne und Engel von der Decke. Mit einem waghalsigen Sprung landete er auf einer schimmernd roten Kugel. Kurz schaukelte er schwungvoll und fühlte sich wie in einem dieser modernen Musikvideos.
„Mutti, ein Teddy!“, schrillte ein Stimmchen durch die sonst stille Halle. Besagte Mutti hielt ihrem Kind schnell die Augen zu, bevor es auch die Schusswaffe entdeckte.
Scheiß auf Fernsehteam! Jetzt würde er garantiert in den Acht-Uhr-Nachrichten landen. In einem verwackelten Handyvideo.
Den Schwung der überdimensionalen Christbaumkugel nutzte Matthias, um sich auf den Rücken eines tiefer gelegenen Engels fallen zu lassen. Hier hatte er eine größere Auflagefläche und bessere Distanz zu seinem Zielsubjekt. Ein goldener Stern kreuzte seinen Weg und eine der Spitzen bohrte sich in sein Knie. Dennoch landete er sicher.
Bäuchlings legte sich Matthias über das Kreuz des Cherubs und brachte abermals das Sturmgewehr in Anschlag. Nur eine minimale Lücke müsste der Bodyguard ihm geben.
Und da war sie schon. Matthias drückte ab.
Die Kugel drang in Doktor Friedhelm Leitzes Schädel. Der Bodyguard stolperte erst erschrocken einige Schritte zurück, funkte dann aber sofort nach einem Krankenwagen.
„Vergiss es!“, flüsterte Matthias oben auf dem Himmelsboten und zielte erneut. Drei weitere Kugeln bohrten sich hintereinanderweg auf Herzhöhe in den Leib des Politikers.
Jetzt würde wirklich nichts mehr zu retten sein.
Der Auftragskiller stand auf, hielt sich mit einer Hand an der Aufhängung des Engels fest und schwang sich Richtung Galerie. Jetzt fühlte er sich wie Tarzan. Am höchsten Punkt vollführte er einen Hechtsprung und prallte hart gegen das Geländer des Rundganges. Behände zog er sich herüber, griff die Sporttasche und verstaute im Laufen das Sturmgewehr zwischen den Überbleibseln des Teddybären.
Im Parkhaus wartete der schwarze Peugeot 508 mit getönten Scheiben. Matthias schmiss die Tasche auf den Beifahrersitz, rutschte hinter das Steuer und riss sich endlich den Stofftierkopf vom Gesicht. Er verließ das Gebäude kurz bevor die Polizei eintraf. Sein Zeitmanagement konnte niemand toppen. Immerhin gehörte er zu den Profis.
Der Rest war Routine. Das Auto zu einer Außenstelle der Agentur fahren, falls der Chef entschied, dass es vorsichtshalber eine neue Lackierung und ein neues Nummernschild bekommen sollte, und mit einem der Ersatzwagen zur Firma zurückkutschen.
Frisch geduscht und in seiner Alltagskleidung betrat Matthias Schmittke das Büro. Auf seinen feuchten Haaren saß ein Handtuchturban. Unter der Dusche hatte er bemerkt, dass der goldene Stern ihm ein ordentliches Hämatom als Souvenir verpasst hatte. Langsam spürte sein Knie auch den Schmerz.
Das Sturmgewehr hatte er selbstverständlich längst im Sicherheitsschrank verschlossen. Aus der offenen Sporttasche sah ihn nun allerdings der verstümmelte Teddy mit leeren Augen an. Irgendwie tat er Matthias leid.
Nachdenklich nahm der Mann den hohlen Kopf des Bären in Hände und legte ihn auf die Bettcouch. Das Fell war nirgends beschädigt. Er beschloss den Teddy zu flicken.
Melanie hatte er eh bereits eine SMS geschickt, dass es bei ihm später werden würde. Nie wieder Einsätze an Heiligabend.
Von Sabrina, die immer noch im Foyer saß und sich offensichtlich langweilte, ließ er sich zwei große, dunkle Knöpfe und ein langes, rotes Stoffband bringen. Nähnadeln und Garn besaß er selbst. Nach Aufträgen musste immer mal wieder etwas ausgebessert werden.
Zurück im Büro bekam der Bärenkopf zuerst seine zwei Augen wieder, danach stopfte Matthias alte T-Shirts als Füllung in ihn hinein. Sorgfältig nähte er Kopf und Körper wieder zusammen.
„Und nun bekommst du ein neues Styling“, erklärte er schließlich dem Stofftier, das er stolz vor sich hielt. „Wir wollen ja nicht, dass dich jemand erkennt.“
In der nächsten dreiviertel Stunde bekam das Kuscheltier eine neue Haarfarbe verpasst. Jetzt war er nicht mehr honiggelb, sondern schokoladenbraun. Oder wie Nutella. Nutellabraun. Gut, dass Matthias nicht nur das auswaschbare Zeug im Schrank hatte. Eine ganze Weile saß er mit einem Fön neben dem Bären, damit dieser schneller trocknete.
„Mann, du bist echt der einzige Teddy, der ein verdammtes Wellness-Programm bekommt“, seufzte Matthias und sah zur Uhr. Es wurde tatsächlich sehr knapp. In seiner Familie veranstaltete man die Bescherung bereits am Heiligabend.
Prüfend griff er in das Fell. Im Großen und Ganzen war das Stoffier trocken. Die letzten klammen Stellen würden sich bis nach Hause gegeben haben. Matthias nahm das rote Stoffband und befestigte es als Schleife um den Hals des Teddys, damit die Naht versteckt wurde. Grinsend besah er sein Meisterwerk. „Jetzt bist du bereit für Lisa!“
Sabrina zog eine gezupfte Augenbraue in die Höhe und schaute nicht schlecht drein, als Matthias mit einem enormen Teddybären unter dem Arm durch das Foyer schritt. Winkend verabschiedete er sich und wünschte ihr schöne Feiertage.
Aus dem Flur war das Schließgeräusch eines Schlüssels zu vernehmen.
„Papa kommt, Papa kommt!“, rief Lisa aufgeregt und stürmte auf die Tür zu. Während das kleine Mädchen ihrem Vater im Flur um den Hals fiel, lehnte sich Melanie lächelnd in den Türrahmen zur Wohnstube und verschränkte die Arme.
„Na, da kommt jemand noch gerade rechtzeitig zum Nachtisch.“
„Jemand kommt erst zum Nachtisch, weil er unterwegs noch den Weihnachtsmann getroffen hat“, antwortete Matthias und zwinkerte seiner Tochter zu. Dann holte er den riesigen, flauschigen Teddybären herein und drückte ihn Lisa in die Arme. Er war genau so groß wie sie.
„Das hat er mir noch für dich mitgegeben.“
Breit grinsend schlang Lisa die dünnen Arme um den dicken Fellbauch. Gemeinsam verschwanden Stofftier und Kind Richtung Tannenbaum. Wo das eine aufhörte und das andere anfing, konnte man nicht mehr wirklich sagen.
„Und? Hat der Weihnachtsmann dir auch etwas für deine Frau mitgebracht?“, erkundigte Melanie sich mit einem verschmitzten Lächeln. „Reicht denn ein gesunder Ehemann pünktlich zum Dessert nicht?“, erwiderte Matthias und gab ihr feixend einen Kuss. Dann ging er an ihr vorbei in das Wohnzimmer.
„Gesund ist gut“, merkte sie an. „Sag mal, humpelst du?“
„Oh, das“, brummte Matthias und ließ sich mit geschlossenen Augen in den Sessel fallen. Auf das weiche Polster und die rückenschonende Lehne hatte er sich schon eine ganze Weile gefreut.
Als er die Lider wieder hob, stand Melanie mit verschränkten Armen vor ihm und sah ihn auffordernd an. Seufzend krempelte er sein Hosenbein hoch und zeigte ihr das stolze Hämatom, das sich zwischen Bein und Kniescheibe ausgebreitet hatte.
„Wie ist das denn passiert?“, heischte sie entsetzte und blickte nun sehr mitfühlend drein. „Ich hol dir was zum Kühlen.“
Kurz verschwand Melanie in der Küche und kam dann mit einem Kühlakku wieder.
„Sterling, unser neuer Praktikant, hat mir beim Jahresabschlussmeeting den Fernsehwagen in die Seite geschoben.“, erklärte Matthias, während er sein Bein hochlegte und Melanie ihm der Kühlakku über dem Knie platzierte.
„Eure Praktikanten werden auch immer dämlicher“, brummelte sie, bevor sie den Nachtisch verteilte.
Danach gab es die Bescherung. Doch Lisa freute sich am meisten über ihren neuen Teddybären. Matthias schmunzelte.
Während die Tochter glücklich unter dem geschmückten Baum spielte, brachte Melanie ihrem verletzten Gatten die Reste vom eigentlichen Abendessen und stellte den Fernseher an. Die Acht-Uhr-Nachrichten. Tatsächlich brachten sie einen Nachruf auf Dr. Friedhelm Leitze. Sogar das Filmmaterial des Reporterteams hatten sie schon. Man sah Leitze etwas über Weihnachten und soziale Hilfen palavern, während er übermäßig verschwenderischen Schmuck für seine Frau abholte. Matthias fand es sehr ironisch. Anschließend zersprang die Glasfront des Juweliers. Sein Fehlschuss.
Dann kam es: das schlechte Foto eines riesigen Deko-Engels, der von der Decke des Shoppingcenters herab schwebte, und hinter dessen Rücken der Kopf eines Stoffbären hervorschaute. Unter dem eingeblendeten Bild stand: Teddybär mit Sturmgewehr.
Matthias verdrehte die Augen. Es hatte schon einfallsreichere Schlagzeilen für seine erfolgreichen Einsätze gegeben.
„Mein Gott“, murmelte Melanie, „und so etwas direkt vor den Feiertagen. Wo sind da Friede und Besinnlichkeit?“
Ja, dachte Matthias zustimmend, Einsätze direkt vor den Feiertagen waren viel zu stressig.
„Unsere Gäste kommen morgen zu dreiviertel zwölf“, informierte ihn seine Frau.
Von wegen Friede und Besinnlichkeit. Vielleicht konnten sie seine Eltern und Schwiegereltern noch ausladen?
„Für das Mittagessen ist alles vorbereitet“, plapperte Melanie weiter. Es würde eine große, wunderschöne Gans geben. Matthias freute sich schon darauf und versank zufrieden noch weiter im Sesselpolster. Lächelnd nahm er das Glas Wein, das Melanie ihm hingestellt hatte, und prostete in Gedanken dem Fernseher zu. Die Gans hatte dieses Jahr Friedhelm Leitze bezahlt. Oder besser gesagt, jemand, dem Leitze im Weg gestanden hatte.
Matthias besah sich lächelnd seine kleine Familie und begann Weihnachtslieder zu summen.
